HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2003
4. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Ergänzende Anmerkungen zu Gubitz, Anmerkung zu LG Kiel (II KLs 48/01) v. 19.11.2002 (hrr-strafrecht 5/203)

Von Dr. iur. Helmut Pollähne[*]

Es ist in der Tat zu begrüßen, dass mehr und mehr Gerichte von der Aussetzungsmöglichkeit des § 116 StPO auch im Rahmen der einstweiligen Unterbringung nach § 126a StPO Gebrauch machen - vermeintlich 'contra legem', denn dies ist in § 126a Abs.2 S.1 StPO nicht ausdrücklich vorgesehen. Da es sich aber letztlich um einfachgesetzlich konkretisiertes Verfassungsrecht handelt, nämlich um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und in dessen Rahmen insb. um das Subsidiaritätsprinzip, die für die einstweilige Unterbringung mithin unabhängig davon gelten, ob der StPO-Gesetzgeber dies explizit erwähnt hat, ist der Kieler Entscheidung und der Anmerkung des Kollegen Gubitz eigentlich nichts Wesentliches hinzuzufügen - gleichwohl seien mir folgende Ergänzungen gestattet:

Neben den genannten veröffentlichten Entscheidungen des OLG Celle von 1987 und des LG Hildesheim von 2001 wären zu nennen:

- OLG Celle (2 Ws 54/95) v. 23.3.1995 in NdsRPfl 1995, 275 = OLGSt § 126a StPO Nr.2, worauf gleich noch näher einzugehen ist (s.u.) und

- AG Gütersloh (12 Gs 951/00) v. 11.10.2000 in R&P 2002, 126 mit einer ausführlichen Anmerkung von mir zur Geltung des Subsidiaritätsprinzips im Maßregelrecht

- sowie eine (offenbar unveröffentlichte) weitere Entscheidung des OLG Celle (1 Ws 43/90) v. 13.2.1990 (die in NdsRPfl 1995, 275 - s.o. - Erwähnung findet).

Das Bedürfnis der Praxis nach Rechtssicherheit bei der Anwendung des § 116 StPO hat übrigens auch durch den Gesetzgeber ansatzweise Anerkennung gefunden, indem eine entsprechende Änderung Einzug in einen Gesetzentwurf gefunden hatte (BR-Drs 775/01 Art.2 Nr.1 unter Verweis auf die 'rechtspolitische Erwünschtheit' und das Verhältnismäßigkeitsprinzip, aaO S.14 f.), der bisher allerdings - pikanter Weise wegen Widerständen aus den Reihen der rot-grünen Bundesregierung (vgl. dazu R&P 2002, 133 f.) - nicht weiter verfolgt bzw. wieder aufgegriffen wurde.

So wichtig es ist, den Vollzug der einstweiligen Unterbringung nach § 126a StPO analog § 116 StPO aussetzen zu können, und zwar nicht nur nachträglich (also etwa im Rahmen des Haftprüfungsverfahrens - hier müsste es eigentlich 'Unterbringungsprüfungsverfahren' heißen - der §§ 117, 118 StPO) sondern, was praktisch mindestens so bedeutsam ist, auch sogleich mit der Anordnung, so sehr muss Beachtung finden, was Gubitz eher beiläufig erwähnt: Vor einer Prüfung der anfänglichen oder nachträglichen Aussetzungsmöglichkeit ist besonders sorgfältig zu prüfen, ob die Unterbringung nach § 126a StPO überhaupt (bzw. überhaupt noch) "erforderlich" ist, mit der Aussetzung darf m.a.W. nicht der Anspruch auf Aufhebung unterlaufen werden für den Fall, dass die gesetzlichen Anordnungsvoraussetzungen nicht mehr vorliegen. Auch im vorliegenden Fall leuchtet nicht auf Anhieb ein, warum § 126a StPO aufrechterhalten werden musste, jedenfalls fehlen in der Begründung hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für ein Fortbestehen der Gefährlichkeit bzw. ein andauerndes Erfordernis für die öffentlichen Sicherheit.

Ausdrücklich unterstreichen kann ich die Anmerkungen zur Prognoseproblematik und zur (Verteidigungs-)Chance, im Rahmen des § 126a StPO eine Entscheidung nach § 67b StGB vorzubereiten oder die Unterbringungsanordnung sogar gänzlich entbehrlich zu machen. Wenn man hierfür die Kooperation sowohl des eigenen Mandanten als auch der Einrichtung gewinnt, ist in der Tat viel gewonnen.

Zurückzukommen ist - wie angekündigt - noch einmal auf die Entscheidung des OLG Celle aus dem Jahre 1995, und zwar vor allem wegen einer gewissen Parallelität zu dem Kieler Fall: Seinerzeit war eine Aussetzung gemäß § 116 StPO (ohne sich zu der Grundsatzfrage der Anwendbarkeit und zu den Entscheidungen der anderen Senate des eigenen Hauses - s.o. - zu äußern) aufgehoben worden, die mit der Weisung ergangen war, "dass der Beschuldigte in der Anstalt verbleibt, um dadurch Lockerungsmaßnahmen zu ermöglichen" (Ls.). Insbesondere wurde - wie ich meine zu Recht (wegen Unbestimmtheit und Unzumutbarkeit) - die Weisung zurückgewiesen, der Beschuldigte habe im LKH zu bleiben und sich "den ärztlichen Anweisungen" zu fügen. Demgegenüber wurde darauf hingewiesen, dass es dem Haftrichter obliege, gemäß § 119 StPO über die Ausgestaltung des Vollzuges der einstweiligen Unterbringung zu entscheiden, wenn die Voraussetzungen des § 126a StPO weiterhin vorlägen. § 119 StPO biete auch für Lockerungen im Vollzug der einstweiligen Unterbringung eine hinreichende Rechtsgrundlage.

Mir scheint, der vorliegende Beschluss des LG Kiel liegt auf derselben Linie und lässt sich kaum mit der Entscheidung des OLG Celle vereinbaren - wohl auch nicht mit § 116 StPO, wobei es sich freilich als Problem herausstellt, dass diese Vorschrift, deren Anwendung auf § 126a StPO vom Gesetzgeber nicht bedacht wurde, nur mit Mühe unmittelbar auf die einstweilige Unterbringung übertragbar ist (weshalb eine gesetzliche Regelung und Klarstellung in der Tat wünschenswert wäre). Es mag als Formalismus erscheinen, eine vollzugsrechtliche Lösung (über § 119 Abs. 4, 6 StPO) der quasi-vollstreckungsrechtlichen (über § 116 StPO) vorzuziehen, wenn doch beide Wege 'in etwa' zum gleichen Resultat führen. Die Argumente des OLG Celle sind jedoch nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen und im Bereich der U-Haft käme - wenn ich es recht sehe - auch niemand auf die Idee, eine Aussetzungsentscheidung nach § 116 StPO mit einer vergleichbaren Weisung zu versehen, um offenen U-Haftvollzug zu ermöglichen ... oder? Rechtlich bemerkenswert ist an der Kieler Konstruktion freilich, dass eine Rücknahme dieser offenen Unterbringung per Weisung auch nur in einem Verfahren gemäß § 116 Abs. 4 StPO möglich ist, denn nach einer Entscheidung gemäß § 116 StPO findet 'Vollzug' bis auf weiteres nicht mehr statt, so dass der Patient also auch nicht ohne weiteres vom ärztlichen Leiter in den geschlossenen Vollzug zurückgeholt werden könnte - ob dies vom Gericht und von der Einrichtung bedacht wurde?

En detail bedarf es also noch einiger Klärungen, was auch damit zu tun hat, dass es ein durchgearbeites Vollzugsrecht der einstweiligen Unterbringung praktisch überhaupt nicht gibt - diesbezüglich erlaube ich mir abschließend auf zwei meiner aktuellen Veröffentlichungen zu § 126a StPO hinzuweisen:

Die einstweilige Unterbringung des § 126a StPO im Recht

Teil 1: Grundlagen, Verfahren, Anordnung - Recht & Psychiatrie 2002, 229 ff.
Teil 2: Vollstreckung und Vollzug - Recht & Psychiatrie 2003, 57 ff.


[*] Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bremer Institut für Kriminalpolitik, Universität Bremen. Er ist darüber hinaus Redaktionsmitglied der Fachzeitschrift Recht & Psychiatrie.