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HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 220

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 444/06, Urteil v. 01.02.2007, HRRS 2007 Nr. 220


BGH 5 StR 444/06 - Urteil vom 1. Februar 2007 (LG Neuruppin)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Intelligenzminderung und Verhaltensauffälligkeit; Schwachsinn; Gefahrenprognose: Gesamtwürdigung bei Tat im Rahmen einer Heimunterbringung); Sicherungsverfahren; unzulässige Aufklärungsrüge (Benennung eines konkreten Beweismittels).

§ 63 StGB; § 20 StGB; § 21 StGB; § 413 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 244 Abs. 2 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Wurzelt die Tat des Beschuldigten in dessen im Rahmen einer Heimunterbringung durch Konfrontation entstandener Aggression gegen Betreuungspersonal, kann dies - ähnlich den Taten zum Nachteil von Angehörigen einer psychiatrischen Klinik (vgl. BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 26) - nur eingeschränkt Anlass für eine Anordnung einer strafrechtlichen Unterbringung sein.

Entscheidungstenor

1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin gegen das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 16. Mai 2006 werden verworfen.

2. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dem Beschuldigten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen. Die Nebenklägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat es im Sicherungsverfahren abgelehnt, den Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen. Die dagegen gerichteten Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft - vom Generalbundesanwalt vertreten - und der Nebenklägerin bleiben erfolglos.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

a) Der 1970 geborene Beschuldigte kennt seine Eltern nicht und lebt seit frühester Kindheit in Heimen. Seine Intelligenz ist vermutlich wegen einer frühkindlichen Hirnschädigung deutlich gemindert. Der Beschuldigte ist ferner verhaltensauffällig.

Im Wichernheim in Frankfurt (Oder) kam es in den Jahren 1989 bis 2001 häufiger zu Konflikten des Beschuldigten mit Heimbewohnern. Diesen gegenüber verhielt sich der Beschuldigte gelegentlich aggressiv. Er beging zudem fortgesetzt Diebstähle. Um diesem allem zu entgehen, wurde der Beschuldigte anschließend in das betreute Einzelwohnen des Tiele-Winckler-Hauses in Berlin übernommen. Der Beschuldigte erledigt dort die im Haushalt anfallenden Aufgaben selbst. Er arbeitet im Garten einer Behindertenwerkstatt, die er täglich selbstständig aufsucht. Ein Betreuer des Heims teilt dem Beschuldigten drei Mal in der Woche Taschengeld zu. Der Beschuldigte ist in nervenärztlicher Behandlung und erhält regelmäßig ein Neuroleptikum als Depotpräparat.

Der Beschuldigte nahm vom 29. Juni bis 6. Juli 2003 an einer vom Zachäuskreis, einer Einrichtung der katholischen Kirche zur Betreuung geistig Behinderter, veranstalteten Reise in ein Ferienobjekt in der Schorfheide teil. Der Beschuldigte wohnte dort gemeinsam mit einem Mitreisenden und dem Betreuer L. in einem Bungalow. L. und der Nebenklägerin, einer weiteren Betreuerin der Behinderten, war bekannt, dass der Beschuldigte zu Gelddiebstählen neigt. Mit dem Beschuldigten wurden Taschenkontrollen abgesprochen und festgelegt, dass nach Begehung eines Diebstahls sofort die Heimreise anzutreten sei.

Der Beschuldigte stahl dennoch am 30. Juni 2003 aus dem Zimmer des Zeugen L. einen für den Mitreisenden verwahrten Geldschein über 100 Euro und kaufte sich davon Zigaretten. Gegenüber der Nebenklägerin täuschte er Übelkeit vor und erklärte, sofort nach Hause fahren zu wollen. Die Nebenklägerin wertete das Verhalten des Beschuldigten zu Recht als eine ihr bekannte typische Ausweichmethode nach Begehung eines Diebstahls. L. deckte schließlich den Diebstahl des Beschuldigten auf, den dieser am nächsten Morgen auch gegenüber der Nebenklägerin einräumte.

Der Zeuge L. bedrängte den Beschuldigten hartnäckig, das restliche Geld zurück zu geben, auch noch, nachdem der Beschuldigte in fortschreitender Erregung angekündigt hatte, die Nebenklägerin umzubringen. Der Beschuldigte lief in einen Bungalow, nahm ein 30 cm langes Küchenmesser an sich, drängte mit erhobenem Messer L. zur Seite und kündigte erneut an, die Nebenklägerin umzubringen. Der Beschuldigte lief auf die in 50 m Entfernung wahrgenommene Nebenklägerin mit erhobenem Messer zu. Diese konnte sich kurz vor dem Zusammentreffen mit dem Beschuldigten in eine Kapelle retten und deren Tür von innen schließen. Die Nebenklägerin gab dem Beschuldigten durch das Türfenster zu verstehen, mit ihrem Mobiltelefon die Polizei zu rufen. Danach übergab der Beschuldigte das Messer an den Zeugen L.

b) Das Landgericht hat - dem Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen folgend - angenommen, dass zum Zeitpunkt des Entschlusses, die Nebenklägerin zu töten, die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten nicht ausschließbar vollständig aufgehoben gewesen sei. Bei dem Verhalten des Beschuldigten habe es sich um die von einem affektiven Geschehen getragene aggressive Handlung eines erheblich verhaltensgestörten und frustrationsintoleranten Schwachsinnigen gehandelt.

Im Übrigen sei diagnostisch eine leichte Intelligenzminderung deutlicher Ausprägung mit Verhaltensauffälligkeiten (ICD 10: F 70.1) anzunehmen; dies begründe in der Regel eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten. Das Schwurgericht ist ferner zu der Überzeugung gelangt, dass der Beschuldigte infolge seines Schwachsinns nicht in der Lage gewesen sei, eine ausreichende Hemmschwelle zur Vermeidung von Gelddiebstählen aufzubauen.

c) Das Landgericht hat es abgelehnt, die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen. Es sei nicht zu erwarten, dass der Beschuldigte infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten begehe und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei.

Das Schwurgericht stützt seine Wertung auf das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen, wonach die Gewalthandlung des Beschuldigten nicht aus einer ihm eigenen habituell verwurzelten Aggressionsbereitschaft resultiere, sondern sich aus einer Situation heraus entwickelt habe, die durch länger andauernde Konfrontation mit dem Diebstahlsvorwurf bestimmt worden sei. Dadurch sei der Beschuldigte - entgegen seinen normalen Lebensumständen - wiederum in eine repressiv strukturierte Situation gebracht worden, in der er aggressiv reagiert habe, nachdem ihm das üblicherweise bevorzugte Ausweichverhalten nicht mehr möglich gewesen sei.

Dies bedeute, dass der Beschuldigte kaum und jedenfalls nicht ohne äußeren Anlass aus sich heraus gefährlich in Erscheinung trete. Außerhalb des durch fachkundiges Personal geschützten Lebensbereichs des Beschuldigten könne sich das Risiko einer Aggression durch diesen zwar bei Gelddiebstählen verwirklichen, falls der Beschuldigte auf nicht verständnisvolle Opfer stoßen würde. Dem stehe entgegen - wie der Sachverständige ausgeführt habe -, dass es bisher nie zu wirklich erheblichen Vorfällen gekommen sei und der Beschuldigte weder vor noch nach der festgestellten Tat durch erhebliche Angriffe auffällig geworden sei.

2. Die von der zulässigen Revision der Nebenklägerin (BGHSt 47, 202; BGHR StPO § 400 Abs. 1 Zulässigkeit 7) erhobene Aufklärungsrüge ist unzulässig, weil sie kein bestimmtes Beweismittel benennt (vgl. BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Aufklärungsrüge 6). Davon wird auch die geltend gemachte Verletzung des § 246a StPO erfasst.

3. Die sachlichrechtlichen Einwände beider Revisionen greifen nicht durch. Die vom Schwurgericht vorgenommene Gesamtwürdigung aller Umstände, dass eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades für neuerliche schwere Störungen des Rechtsfriedens nicht besteht (vgl. BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 27), ist letztlich vertretbar und damit revisionsgerichtlich noch nicht zu beanstanden.

Die Wertung des Landgerichts fußt auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage. Es ist nicht ersichtlich, dass der psychiatrische Sachverständige nicht alle relevanten Akteninhalte und die in die Hauptverhandlung eingeführten Tatsachen in seine Würdigung einbezogen hätte. Eine zulässige Aufklärungsrüge ist insoweit nicht erhoben. Damit bleibt der erst vom Generalbundesanwalt geltend gemachte Einwand erfolglos, eine Aufklärung der Grundlagen einer Eintragung eines eingestellten Ermittlungsverfahrens in das Bundeszentralregister aus dem Jahr 2005 hätte Anhaltspunkte für relevante Gewalthandlungen des Beschuldigten ergeben. Trotz einer allzu skizzenhaften Urteilserwähnung sieht der Senat nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe noch keinen sachlichrechtlich beachtlichen Darstellungsmangel.

Dass das Landgericht die Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen im Übrigen nicht zutreffend ausgewertet hätte, ist nicht ersichtlich.

Das Landgericht hat die möglichen Fälle künftiger Gefährdungen Dritter, der Opfer von Gelddiebstählen des Beschuldigten in öffentlichen Verkehrsmitteln, ausdrücklich erwogen. Es begegnet indes keinen Bedenken, wenn das Landgericht insoweit eine Gefährlichkeit des Beschuldigten unter Hinweis auf den Umstand verneint hat, dass es bisher bei solchen Gelegenheiten nie zu wirklich erheblichen Vorfällen gekommen ist (vgl. BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 25).

Die Revision der Staatsanwaltschaft weist zu Recht darauf hin, dass sich in der Tat des Beschuldigten ein besonders hohes Aggressionspotential verwirklicht hat. Das verkennt der Senat nicht. Indes wird daraus hier noch nicht die Annahme der Beschwerdeführerin begründet, dem Landgericht sei insoweit bei seiner Gefährlichkeitsprognose ein Wertungsfehler unterlaufen.

Das ergibt sich aus der Besonderheit, dass die Tat des Beschuldigten in dessen im Rahmen einer Heimunterbringung durch Konfrontation entstandener Aggression gegen Betreuungspersonal wurzelt. Solches kann aber - ähnlich den Taten zum Nachteil von Angehörigen einer psychiatrischen Klinik (vgl. BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 26) - nur eingeschränkt Anlass für eine Anordnung einer strafrechtlichen Unterbringung sein.

Eine etwas höhere Gewichtung des von dem Beschuldigten ausgehenden Gefährdungspotentials mit der von der Nebenklägerin ausdrücklich erstrebten Konsequenz der Anordnung der Unterbringung nach § 63 StGB unter gleichzeitiger Aussetzung der Maßregel zur Bewährung (§ 67b StGB) wäre gleichwohl - vielleicht sogar besser - vertretbar gewesen. Dies zwingt indes - namentlich angesichts der fortdauernden wirkungsvollen Einbindung des Beschuldigten in kontrollierende Betreuung - noch nicht zur Beanstandung der angefochtenen, ebenfalls vertretbaren tatgerichtlichen Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 220

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2007, 139

Bearbeiter: Karsten Gaede