hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 23/97, Urteil v. 24.04.1997, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 4 StR 23/97 - Urteil vom 24. April 1997 (LG Bielefeld)

BGHSt 43, 63; Vernehmung einer hörgeschädigten und retardierten Person durch Einschaltung einer vertrauten Person (Verpflichtung der vertrauten Person als Dolmetscher); Verwertungsverbot und Widerspruchslösung (richterliche Zeugenvernehmung im Ermittlungsverfahren; Anwesenheitsrecht).

§ 69 Abs. 1 S. 1 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; § 186 GVG; § 168c Abs. 5 StPO

Leitsätze

1. Ist in der Hauptverhandlung eine unmittelbare mündliche Verständigung mit einem schwer hörgeschädigten und geistig retardierten Zeugen nicht möglich, so kann das Gericht eine dem Behinderten vertraute Person als Hilfsperson hinzuziehen; ob diese entsprechend einem Dolmetscher zu verpflichten ist, steht im Ermessen des Gerichts. (BGHSt)

2. Die Rüge der Verletzung der § 168c Abs. 2, 5 S. 1 StPO setzt einen Widerspruch gegen die Verwertung der Aussage in der Hauptverhandlung voraus (vgl. BGHSt 26, 332, 334/335; BGH NStZ 1987, 132, 133). (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 10. September 1996 wird verworfen.

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlichen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung materiellen Rechts rügt. Von seinem Rechtsmittelangriff hat er - in zulässiger Weise (BGHSt 38, 362) - die Nichtanwendung des § 64 StGB ausgenommen. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I. Verfahrensrügen:

1. Soweit der Angeklagte rügt, er sei von den beiden richterlichen Vernehmungen des Zeugen A. W. am 15. und 24. August 1995 entgegen § 168c Abs. 2, 5 S. 1 StPO nicht benachrichtigt worden, folgt aus dem Verfahrensverstoß im vorliegenden Fall kein Verbot der Verwertung der Aussage des über den Inhalt der Angaben des Zeugen W. vernommenen Ermittlungsrichters, denn vom Angeklagten und seinem Verteidiger wurde in der Hauptverhandlung - wie die Revision selbst vorträgt - ein Widerspruch gegen die Verwertung der Aussage nicht erhoben (vgl. BGHSt 26, 332, 334/335; BGH NStZ 1987, 132, 133 und Urteil vom 19. März 1996 - 1 StR 497/95 insoweit in BGHSt 42, 86 <nicht abgedruckt>; Wache in KK/StPO 3. Aufl. § 168 c Rdn. 22 m.w.N.).

2. Die in diesem Zusammenhang weiter erhobene Rüge, bei den Vernehmungen sei § 69 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht beachtet worden, hat ebenfalls keinen Erfolg. Die Protokolle vom 15. und 24. August 1995 als solche wurden nicht unmittelbar verwertet. Aber auch ihre mittelbare Einführung in die Hauptverhandlung durch die Vernehmung des Ermittlungsrichters begegnet keinen rechtlichen Bedenken:

Nach dem Inhalt der von der Revision mitgeteilten beiden richterlichen Vernehmungsprotokolle hat der - unter Zuziehung einer Dolmetscherin vernommene - Zeuge von sich aus zur Sache berichtet. Unklarheiten wurden durch Zwischenfragen und Vorhalte der Richters beseitigt. Das ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden (vgl. BGH bei Dallinger MDR 1966, 25; Dahs in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 69 Rdn. 7 m.w.N.). Entgegen der Auffassung der Revision ist es rechtlich unbedenklich, daß der Ermittlungsrichter dem Zeugen bei seiner ergänzenden Vernehmung am 24. August 1995 zunächst die richterliche Vernehmung vom 15. August 1995 Wort für Wort übersetzen und sich vom Zeugen deren Richtigkeit bestätigen ließ.

3. Auch die Rüge, das Landgericht habe gegen Verfahrensvorschriften verstoßen, als es die Schwester der Zeugin T. P. dazu heranzog, bei der Vernehmung der Zeugin mitzuwirken, greift nicht durch.

a) Der Rüge liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

aa) Nach den Urteilsfeststellungen versetzte sich der Angeklagte vorsätzlich durch alkoholische Getränke in einen Rausch. Bei möglicherweise aufgehobener Steuerungsfähigkeit (§ 20 StGB) beging er sodann zum Nachteil der T. P. eine sexuelle Nötigung.

Der Angeklagte hat bestritten, die ihm vorgeworfene Tat begangen zu haben. Die Strafkammer sieht ihn aufgrund der Aussagen des Tatzeugen A. W. - eines Neffen des Angeklagten - beim Ermittlungsrichter, der Angaben der T. P. und des Ergebnisses der kurz nach der Tat bei ihr erfolgten ärztlichen Untersuchung, bei der im Scheidenvorhof ein frischer, mit Blut bedeckter Hautriß festgestellt worden war, als der Tat überführt an.

bb) Das Tatopfer T. P. ist schwer hörgeschädigt, geistig retardiert und nicht in der Lage, Fragen, insbesondere, wenn sie abstrakte Begriffe zum Gegenstand haben, zu erfassen und Sexualvorgänge zu benennen und zu beschreiben. Eine Verständigung konnte mangels entsprechender Deutschkenntnisse der Zeugin nur mit Hilfe einer Dolmetscherin durchgeführt werden. In der Hauptverhandlung war die Zeugin - bei Ausschluß der Öffentlichkeit - "damit einverstanden", daß zu ihrer "Unterstützung im Rahmen ihrer Zeugenvernehmung" ihre Schwester N. zugegen war. Dagegen erhoben die Prozeßbeteiligten keine Einwände. T. P. sagte dann "unter Mitwirkung der Dolmetscherin zur Sache aus". Im Sitzungsprotokoll ist hierzu weiter ausgeführt:

"Da eine Verständigung, insbesondere ein entsprechendes Antworten auf die Fragen des Vorsitzenden, nicht möglich war, wurde die im Zuhörerraum anwesende Schwester der Zeugin, Frau N. P., zu der Vernehmung hinzugebeten, um nun mit ihrer Hilfe eine Verständigung, insbesondere ein sinnvolles Antworten auf die gestellten Fragen zu ermöglichen. Seitens der Prozeßbeteiligten wurden keine Erklärungen abgegeben. Die Schwester der Zeugin, Frau N. P., kam hervor und nahm neben der Zeugin Platz. Die Zeugin T. P. sagte weiter zur Sache aus; die Schwester der Zeugin wirkte 'hilfestellend' bei der Verständigung mit. Die Dolmetscherin ... war jedoch weiterhin als 'eigentliche Übersetzerin' tätig. ..."

b) Die Revision macht geltend, die "Hilfestellung" der N. P. sei unzulässig gewesen, denn die Strafprozeßordnung sehe eine "Gemeinschaftsaussage" zweier Personen nicht vor. Zumindest habe N. P. wie eine Dolmetscherin behandelt und vereidigt werden müssen. Denkbar sei auch, daß die "Hilfestellung" selbst als "Zeugenaussage, möglicherweise als Zeugnis vom Hörensagen" zu qualifizieren sei und es deshalb einer Zeugenbelehrung (§ 57 StPO), insbesondere aber einer Entscheidung über die Vereidigung (§ 59 StPO) der N. P. bedurft hätte. Dies alles habe das Landgericht rechtsfehlerhaft nicht berücksichtigt; ein Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensfehler lasse sich nicht ausschließen.

c) Entgegen der Auffassung der Revision ist die Verfahrensweise der Strafkammer aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

aa) Allerdings vermag der Senat der Ansicht des Generalbundesanwalts, die Heranziehung der Schwester der Zeugin T. P. sei nach § 406f Abs. 3 StPO gerechtfertigt gewesen, nicht zu folgen: Es ging hier nicht um die "psychologische Betreuung" der Geschädigten auf deren Antrag (vgl. BT-Drucks. 10/5305, S. 19; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 42. Aufl. § 406 f Rdn. 4), sondern um die von Amts wegen veranlaßte "Vermittlung" ihrer Aussage über die Dolmetscherin an das Gericht und die Verfahrensbeteiligten. Hierfür bietet § 406 f Abs. 3 StPO keine Rechtsgrundlage.

bb) Die Zuziehung von N. P. war notwendig, weil dem Gericht und den Prozeßbeteiligten - einschließlich der Dolmetscherin - eine Verständigung mit T. P. - wie die Revision selbst vorträgt - "nur über die Schwester N.P. möglich war".

cc) Die Einschaltung der Schwester der Zeugin war auch rechtlich zulässig; denn es ist Aufgabe des Gerichts, einen Zeugen bei der wahrheitsgemäßen und vollständigen Wiedergabe seines Wissens in geeigneter Weise zu unterstützen (RGSt 35, 5, 7; Dahs aaO § 69 Rdn. 9). Soweit in der Verhandlung eine unmittelbare mündliche Verständigung mit dem Zeugen nicht möglich ist, muß der Vorsitzende - bei Beanstandung seiner Anordnung das Gericht (§ 238 Abs. 2 StPO) - nach pflichtgemäßem Ermessen darüber befinden, welche Maßnahmen zur sachgemäßen Verständigung zu ergreifen sind (vgl. RGSt 15, 172, 173; 33, 181/182; RG Recht 1910 Nr. 4224; OLG Freiburg JZ 1951, 23; Kissel, GVG 2. Aufl. § 186 Rdn. 7). Dies geschieht bei einer tauben oder stummen Person regelmäßig durch Zuziehung eines Dolmetschers (vgl. § 186 GVG; RiStBV Nr. 21 Abs. 2). Die Verständigung kann in Fällen einer Behinderung wie hier aber auch durch Heranziehung einer dem oder der Behinderten vertrauten Person vorgenommen werden (vgl. BGH LM Nr. 1 zu § 186 GVG = JZ 1952, 730; Kissel aaO § 186 Rdn. 9; Schäfer/Wickern in Löwe/Rosenberg, GVG 24. Aufl. 1996 § 186 Rdn. 3).

Unter dem Gesichtspunkt der Sachaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) muß sogar vom Gericht eine derartige Maßnahme ergriffen werden.

dd) Welche Stellung eine solche aus Gründen der gerichtlichen Aufklärungspflicht beigezogene Person einnimmt, ist im Verfahrensrecht nicht geregelt (vgl. RGSt 33, 181, 182), wenn auch bereits bei den Beratungen zu § 152 (dem späteren § 188 und jetzigen § 186) GVG - neben der Heranziehung von Dolmetschern - die Statthaftigkeit der "Zuziehung zur Verständigung geeigneter Mittelspersonen" bejaht wurde (Hahn, Die gesamten Materialien zu dem GVG 2. Aufl. 1883 1. Abt. S. 351). Eine solche Person hat im Zeitpunkt ihres Tätigwerdens (der "Hilfestellung") selbst keine Zeugenstellung inne, weil sie lediglich aus Gründen der Sachaufklärung bei der Vernehmung eines Zeugen mitwirkt (vgl. BGH NJW 1960, 2156; Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß 5. Aufl. S. 171; für den Dolmetscher vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 185 GVG Rdn. 7: "Beteiligter eigener Art"). In ihrer Funktion, Fragen und Antworten zu vermitteln, ist ihre Stellung vielmehr der eines Dolmetschers ähnlich.

ee) Allerdings haben Dolmetscher einen Eid dahin zu leisten, daß sie treu und gewissenhaft übertragen werden (§ 189 Abs. 1 Satz 1 GVG). Diese Regelung kann jedoch nicht ohne weiteres auf eine Person mit einer dolmetscherähnlichen Funktion angewendet werden. Zwar kann es geboten sein, diese Person entsprechend dem Dolmetschereid zu verpflichten, um eine Garantie für die Zuverlässigkeit der Übertragung oder Auskunft zu gewinnen (vgl. RGSt 33, 181, 182; Schäfer/Wickern aaO); insbesondere wird eine Vereidigung dann erforderlich sein, wenn insoweit Bedenken bestehen.

Im übrigen steht dem Tatrichter aber auch hier ein Ermessen zu, das vom Revisionsgericht nur darauf zu überprüfen ist, ob es fehlerhaft ausgeübt wurde (vgl. dazu Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 337 Rdn. 16).

ff) Ein solcher Ermessensfehler ist im vorliegenden Fall nicht erkennbar und wird vom Beschwerdeführer auch nicht behauptet. Ebenso ist ein Aufklärungsmangel weder gerügt worden noch ist er ersichtlich. Alle Prozeßbeteiligten waren vielmehr mit der Vorgehensweise des Gerichts einverstanden und haben gegen die in der beschriebenen Weise durchgeführte Vernehmung der Zeugin T.P. keine Einwände erhoben. Auch die Beweislage drängte den Tatrichter nicht dazu, die Zuverlässigkeit der Schwester des Tatopfers und deren "Hilfestellung" bei der Sachaufklärung, die sich im wesentlichen darauf beschränkte, der Zeugin T. P. die an sie gerichteten Fragen zu erklären (UA 15), mit einem Eid abzusichern oder N. P. - nach Abschluß der Vernehmung ihrer Schwester - selbst als Zeugin zu den Angaben der T. P. zu vernehmen; denn die Aussage der Geschädigten wurde sowohl durch die Bekundungen eines Tatzeugen als auch durch Tatspuren gestützt.

Im übrigen hat das Landgericht die Schwierigkeiten bei der Vernehmung der Zeugin T.P. ausdrücklich bedacht und den eingeschränkten Beweiswert dieser Zeugenaussage umfassend und rechtsfehlerfrei gewürdigt (UA 9 f., 14 ff.).

II. Sachrüge:

Die Sachrüge deckt sowohl zum Schuldspruch als auch zum Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Das Landgericht hat - sachverständig beraten - rechtsfehlerfrei festgestellt, daß der Angeklagte zu Beginn der Alkoholaufnahme lediglich erheblich vermindert steuerungsfähig (§ 21 StGB), nicht aber schuldunfähig (§ 20 StGB) war (UA 11/12, 18/19). Auch die Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung begegnet keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken: Die Strafkammer hat dem Angeklagten keine günstige Sozialprognose zu stellen vermocht und besondere Umstände, insbesondere in der Person des Angeklagten, die ausnahmsweise eine Strafaussetzung nach § 56 Abs. 2 StGB rechtfertigen würden, nicht feststellen können. Diese Wertung des Landgerichts läßt einen Rechtsfehler nicht erkennen (vgl. hierzu Lackner, StGB 21. Aufl. § 56 Rdn. 14, 21, 22 m.w.N.).

Externe Fundstellen: BGHSt 43, 63; NJW 1997, 2335; NStZ 1997, 562; StV 1997, 507

Bearbeiter: Rocco Beck