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HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 1112

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 411/08, Beschluss v. 04.11.2008, HRRS 2008 Nr. 1112


BGH 4 StR 411/08 - Beschluss vom 4. November 2008 (LG Halle)

Kein vorsätzlicher gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr bei Schüssen im Straßenverkehr (konkrete Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs: spezifischer Zusammenhang; Beinahe-Unfall; Grenzen des zeitlichen Zusammenfallens von Eingriff und konkreter Gefährdung; Versuch).

§ 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Allein die Beschädigung eines Kraftfahrzeuges durch einschlagenden Projektile rechtfertigt nicht die Annahme einer vollendeten Tat nach § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB, wenn dieser Sachschaden - wie in der Regel der Fall - in keinem relevanten Zusammenhang mit der Eigendynamik der Fahrzeuge zum Tatzeitpunkt steht, sondern ausschließlich auf die durch die Pistolenschüsse freigesetzte Dynamik der auftreffenden Projektile zurückzuführen ist.

2. Der Tatbestand des § 315b StGB ist dreistufig aufgebaut: Durch eine der in Abs. 1 bezeichneten Tathandlungen muss die Sicherheit des Straßenverkehrs beeinträchtigt und hierdurch eine konkrete Gefahr für eines der genannten Individualrechtsgüter begründet worden sein. Erforderlich ist danach, dass die Tathandlung eine abstrakte Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs bewirkt, die sich zu einer konkreten Gefahr für eines der genannten Schutzobjekte verdichtet (BGHSt 48, 119, 122; BGH NStZ 2007, 34, 35).

3. Regelmäßig werden hierbei der Eingriff und die Begründung der abstrakten Gefahr zeitlich dem Eintritt der konkreten Gefahr vorausgehen, etwa, wenn der Eingriff zu einer kritischen Verkehrssituation führt, durch die sodann eines der Schutzgüter konkret gefährdet wird (sog. "Beinahe-Unfall"). Nach der Senatsrechtsprechung ist dies jedoch nicht zwingend (grundlegend BGHSt 48, 119, 122 ff.). Danach kann der Tatbestand des § 315b Abs. 1 StGB in sämtlichen Handlungsalternativen auch dann erfüllt sein, wenn die Tathandlung (Abgabe des Schusses) unmittelbar zu einer konkreten Gefahr oder Schädigung (Beschädigung des Kraftfahrzeugs) führt.

4. Dies gilt indes nicht uneingeschränkt. Nicht jede Sachbeschädigung (oder auch Körperverletzung) im Straßenverkehr ist tatbestandsmäßig im Sinne des § 315b StGB. Vielmehr gebietet der Schutzzweck des § 315b StGB insoweit eine restriktive Auslegung der Norm, als unter einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder für fremde Sachen von bedeutendem Wert nur verkehrsspezifische Gefahren verstanden werden dürfen (BGHSt aaO S. 124). Dies ist der Fall, wenn die konkrete Gefahr - jedenfalls auch - auf die Wirkungsweise der für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte (Dynamik des Straßenverkehrs) zurückzuführen ist.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 17. April 2008 im Schuldspruch dahin abgeändert, dass die Angeklagten jeweils des tateinheitlich begangenen versuchten vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr schuldig sind.

2. Die weiter gehenden Revisionen der Angeklagten werden verworfen.

3. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils des schweren Raubes in Tateinheit mit vorsätzlichem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr und mit unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe, den Angeklagten A. darüber hinaus in Tateinheit mit versuchter Nötigung, sowie (beide Angeklagten) weiterhin des Diebstahls und der Brandstiftung für schuldig befunden.

Es hat deswegen den Angeklagten A. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und drei Monaten, die Angeklagte B. zu einer solchen von sieben Jahren verurteilt. Ferner hat es gegen den Angeklagten A. die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Gegen dieses Urteil richten sich die Revisionen der Angeklagten, mit denen sie allgemein die Verletzung sachlichen Rechts rügen. Die Revisionen der Angeklagten haben den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen erweisen sich die Rechtsmittel als unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die Verurteilung der Angeklagten wegen (vollendeten) vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Das Landgericht hat insoweit festgestellt:

Nach Begehung des Banküberfalls, der Gegenstand der Verurteilung wegen schweren Raubes ist, flüchteten die Angeklagten mit einem Pkw, den sie zuvor entwendet hatten. Gelenkt wurde das Fluchtfahrzeug von dem Angeklagten A. Der Zeuge W., der das Tatgeschehen zufällig beobachtet hatte, nahm mit seinem Geländewagen die Verfolgung auf. Auf Grund der stärkeren Motorisierung des eigenen Fahrzeugs hatte W. keine Schwierigkeiten, sich dicht hinter das Fluchtfahrzeug der Angeklagten zu setzen. Der Angeklagte A. bemerkte die Verfolgung und fasste den Entschluss, mit einer der bei dem Banküberfall verwendeten Pistolen auf das verfolgende Fahrzeug zu schießen, um es fahruntauglich zu machen und auf diese Weise dessen Fahrer an einer weiteren Verfolgung zu hindern. Er unterrichtete die Angeklagte B. von seiner Absicht, die hiermit einverstanden war und ihm zur Ausführung seines Vorhabens eine Schusswaffe reichte. W. hatte zwischenzeitlich zum Überholen angesetzt. Als beide Fahrzeuge sich bei einer Geschwindigkeit von etwa 80 bis 90 km/h auf gleicher Höhe befanden, gab der Angeklagte A. in schneller Reihenfolge drei Schüsse auf das etwa 1,5 m entfernte Fahrzeug des Zeugen W. ab. Zwei Schüsse trafen, wobei die Projektile in einer Höhe von 97 und 118 cm jeweils die Karosserie durchschlugen, ohne jedoch W. zu verletzen. Die beiden Einschüsse führten nicht zu einer Fahrzeugerschütterung.

Der Zeuge W., der die auf sein Fahrzeug gerichtete Waffe gesehen und auch die Einschüsse akustisch wahrgenommen hatte, "fühlte sich nicht in seiner Fahrsicherheit beeinträchtigt". Er ließ sich, auch weil sich zwischenzeitlich Gegenverkehr näherte, jedoch wieder hinter das Fahrzeug der Angeklagten zurückfallen. An dem Fahrzeug des Zeugen W. entstand durch den Einschlag der Projektile ein Sachschaden in Höhe von ca. 3.000 €.

b) Diese Feststellungen tragen nicht die Verurteilung wegen eines vollendeten Delikts nach § 315 b Abs. 1 Nr. 3 StGB.

aa) Der Tatbestand des § 315 b StGB ist dreistufig aufgebaut: Durch eine der in Abs. 1 bezeichneten Tathandlungen muss die Sicherheit des Straßenverkehrs beeinträchtigt und hierdurch eine konkrete Gefahr für eines der genannten Individualrechtsgüter begründet worden sein. Erforderlich ist danach, dass die Tathandlung eine abstrakte Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs bewirkt, die sich zu einer konkreten Gefahr für eines der genannten Schutzobjekte verdichtet (BGHSt 48, 119, 122; BGH NStZ 2007, 34, 35).

Regelmäßig werden hierbei der Eingriff und die Begründung der abstrakten Gefahr zeitlich dem Eintritt der konkreten Gefahr vorausgehen, etwa, wenn der Eingriff zu einer kritischen Verkehrssituation führt, durch die sodann eines der Schutzgüter konkret gefährdet wird (sog. "Beinahe-Unfall"). Nach der Senatsrechtsprechung ist dies jedoch nicht zwingend (grundlegend BGHSt 48, 119, 122 ff.). Danach kann der Tatbestand des § 315 b Abs. 1 StGB in sämtlichen Handlungsalternativen auch dann erfüllt sein, wenn - wie hier - die Tathandlung (Abgabe des Schusses) unmittelbar zu einer konkreten Gefahr oder Schädigung (Beschädigung des Kraftfahrzeugs) führt.

bb) Dies gilt indes nicht uneingeschränkt. Nicht jede Sachbeschädigung (oder auch Körperverletzung) im Straßenverkehr ist tatbestandsmäßig im Sinne des § 315 b StGB. Vielmehr gebietet der Schutzzweck des § 315 b StGB insoweit eine restriktive Auslegung der Norm, als unter einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder für fremde Sachen von bedeutendem Wert nur verkehrsspezifische Gefahren verstanden werden dürfen (BGHSt aaO S. 124). Dies ist der Fall, wenn die konkrete Gefahr - jedenfalls auch - auf die Wirkungsweise der für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte (Dynamik des Straßenverkehrs) zurückzuführen ist.

cc) Nach Maßgabe dieser Grundsätze kann die Verurteilung wegen vollendeten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr nicht bestehen bleiben. Eine konkrete Gefahr im Sinne eines "Beinahe-Unfalls" (vgl. hierzu BGH NJW 1995, 3131 f.) hat das Landgericht zu Recht nicht angenommen, da weder das Fahrverhalten noch die Fahrsicherheit des Zeugen W. durch die Schüsse in irgendeiner Weise beeinträchtigt worden sind. Aber auch die Beschädigung des Kraftfahrzeuges durch die einschlagenden Projektile rechtfertigt hier entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht die Annahme einer vollendeten Tat nach § 315 b Abs. 1 Nr. 3 StGB. Denn dieser Sachschaden steht in keinem relevanten Zusammenhang mit der Eigendynamik der Fahrzeuge zum Tatzeitpunkt, sondern ist ausschließlich auf die durch die Pistolenschüsse freigesetzte Dynamik der auftreffenden Projektile zurückzuführen. Er ist somit keine spezifische Folge des Eingriffs in die Sicherheit des Straßenverkehrs und muss daher bei der Bestimmung eines "bedeutenden" Sachschadens bzw. einer entsprechenden Gefährdung außer Betracht bleiben (vgl. BGHSt aaO S. 125).

c) Nach den getroffenen Feststellungen haben sich die Angeklagten jedoch jeweils des versuchten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr schuldig gemacht. Zwar hat das Landgericht nicht mit der erforderlichen Sicherheit einen (bedingten) Tötungs- oder Körperverletzungsvorsatz der Angeklagten feststellen können. Es liegt aber auf der Hand, dass die Angeklagten jedenfalls damit rechneten und dies auch billigend in Kauf nahmen, dass es durch die Schüsse zu einer kritischen Verkehrssituation und damit zu einer konkreten Gefährdung von Leib und Leben des Zeugen W. und/oder des von ihm geführten Fahrzeugs kommen könnte. Der Senat ändert daher die Schuldsprüche entsprechend ab. § 265 StPO steht dem nicht entgegen, da ausgeschlossen werden kann, dass sich die - im Wesentlichen geständigen - Angeklagten gegen den geänderten Schuldspruch wirksamer als geschehen hätten verteidigen können.

2. Die Strafaussprüche werden durch die Änderungen der Schuldsprüche nicht berührt. Der Senat schließt aus, dass das Landgericht, das die insoweit verhängten Strafen rechtsfehlerfrei dem Strafrahmen des § 250 Abs. 2 StGB entnommen hat, bei zutreffender Beurteilung des weiteren tateinheitlich verwirklichten Delikts nach § 315 b Abs. 1 Nr. 3 StGB als Versuchstat auf geringere Einzelstrafen erkannt hätte.

3. Der nur geringfügige Erfolg der Rechtsmittel gibt keinen Anlass, die Angeklagten auch nur teilweise von der Auferlegung von Kosten oder Auslagen freizustellen (§ 473 Abs. 4 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 1112

Externe Fundstellen: NStZ 2009, 100; StV 2009, 698

Bearbeiter: Karsten Gaede