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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 421/96, Urteil v. 26.03.1997, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 3 StR 421/96 - Urteil vom 26. März 1997 (LG Wuppertal)

BGHSt 43, 36; Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit (keine Verletzung dieser Grundsätze durch Überlassung von Tonbandprotokollen an die Schöffen zum besseren Verständnis der Beweisaufnahme); Akteneinsicht der Schöffen.

§ 250 StPO; § 30 Abs. 1 GVG

Leitsatz

Werden den Schöffen in der Hauptverhandlung zum besseren Verständnis der Beweisaufnahme aus den Akten stammende Protokolle über diese Beweismittel (hier: Tonbandprotokolle) als Begleittext zur Verfügung gestellt, so ist dies zulässig und verstößt nicht gegen die Grundsätze der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit. (BGHSt)

Entscheidungstenor

1. Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 29. Februar 1996 werden verworfen.

2. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge jeweils zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Ihre Rechtsmittel, mit denen sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügen, bleiben ohne Erfolg. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigungen hat, wie der Generalbundesanwalt in seiner Stellungnahme vom 18. November 1996 näher ausgeführt hat, einen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten nicht ergeben. Der näheren Erörterung bedürfen nur die von beiden Beschwerdeführern erhobenen Verfahrensrügen, daß die Überlassung von Kopien der Telefonüberwachungsprotokolle an die Schöffen gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit und gegen § 261 StPO verstoßen habe und daß ihre hierauf gestützten Befangenheitsgesuche gegen die Berufs- und Schöffenrichter zu Unrecht verworfen worden seien (§ 338 Nr. 3 StPO).

Den Rügen liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Im Hauptverhandlungstermin vom 25. September 1995 wurden umfangreiche fremdsprachige Tonbandaufnahmen über eine nach § 100 a StPO angeordnete Telefonüberwachung vorgespielt, die anschließend durch einen Sprachsachverständigen anhand seiner bereits im Ermittlungsverfahren gefertigten Aufzeichnungen übersetzt wurden. Nachdem die Schöffen am Ende des Sitzungstages geäußert hatten, daß sie dem Wortwechsel im einzelnen nicht folgen konnten und ihnen die Handelnden ebenso wie die in den Gesprächen erwähnten Personen, die Bezugspunkte, Örtlichkeiten und mögliche Tarnbezeichnungen für Rauschgift undurchsichtig geblieben seien, ließ ihnen der Vorsitzende Kopien der in den Akten enthaltenen Aufzeichnungsprotokolle zur Nachbereitung der bereits abgespielten und zum Mitlesen der an den folgenden Sitzungstagen noch abzuspielenden Tonbandaufnahmen aushändigen. Die Aufzeichnungsprotokolle (71 Seiten) enthielten neben dem übersetzten Gesprächsinhalt Zusätze wie Datum, Anschlüsse, Namen der Protokollführer und Übersetzer, erläuternde Anmerkungen, Zuordnung der Gespräche zu Personen, Hervorhebung wichtiger Passagen durch Fettdruck u.ä.; daneben waren den Protokollen einige Bearbeitungszusätze der Berufsrichter wie etwa Unterstreichungen, Streichungen, Hinweise u.ä. beigefügt. Nachdem die Überlassung der Aufzeichnungsprotokolle an die Schöffen durch die Verteidiger der Angeklagten beanstandet worden war, hat das Landgericht auch noch die Teile der Protokolle, wie Zusätze u.ä., die bislang noch nicht in die Hauptverhandlung eingeführt worden waren, zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht.

Die auf diesen Sachverhalt gestützten Ablehnungsgesuche gegen die Berufs- und Schöffenrichter hat das Landgericht als unbegründet zurückgewiesen, weil auch eine möglicherweise strafprozeßordnungswidrige Überlassung von Aktenbestandteilen die Besorgnis der Befangenheit weder der Schöffen noch der damit befaßten Berufsrichter rechtfertige.

Die Rügen sind unbegründet.

Die Überlassung von aus den Akten stammenden Aufzeichnungsprotokollen an die Schöffen als Begleittext zum besseren Verständnis der Beweisaufnahme über den Inhalt und die Bedeutung der abgehörten Telefongespräche war zulässig und verstieß nicht gegen die Grundsätze der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit.

Die Gewährung von Akteneinsicht für Schöffen ist - ebenso wie für die beisitzenden Berufsrichter - gesetzlich nicht geregelt. Die Rechtsprechung hat sich bisher, soweit ersichtlich, nur mit dem Sonderfall der Überlassung einer schriftlichen Darstellung der Staatsanwaltschaft über das Ergebnis der Ermittlungen an die Schöffen befaßt und sie für unzulässig erklärt. Das Reichsgericht hat hierzu unter Berufung auf den sich aus der Entstehungsgeschichte ergebenden Willen des Gesetzgebers ausgeführt, daß eine solche Überlassung den Grundsätzen der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit zuwiderlaufe, weil bei Schöffen die Gefahr bestehe, daß sich ihre Eindrücke aus dieser Darstellung mit denen aus der Hauptverhandlung vermischen könnten, während die Berufsrichter im allgemeinen aufgrund ihrer Schulung und beruflichen Erfahrung zwischen beiden Erkenntnisquellen unterscheiden könnten (RGSt 69, 120, 124). Der Bundesgerichtshof ist bisher dieser Rechtsauffassung gefolgt (BGHSt 5, 261 f.; selbst für den Fall des Mitlesens: BGHSt 13, 73 f., hierzu kritisch Pfeiffer in RuP 1977, 206, 208; BGH GA 1960, 314 f.; MDR 1973, 19; JR 1987, 389). Jedoch hat der 1. Strafsenat in einem obiter dictum Bedenken geäußert, dieser Rechtsprechung weiter zu folgen, weil die im Gesetz nicht vorgesehene unterschiedliche Behandlung von Berufs- und Laienrichtern nicht überzeugend begründbar sei. Auch den Laienrichtern, die dazu berufen sind, alle schwierigen Fragen tatsächlicher und rechtlicher Art gemeinsam und gleichberechtigt mit den Berufsrichtern zu entscheiden, dürfe unbedenklich zugetraut werden, Sinn und Bedeutung der Anklageschrift zu verstehen (BGH, Urteil vom 23. Februar 1960 - 1 StR 648/59).

Demgegenüber hält die heute herrschende Meinung in der Literatur die Gewährung von Akteneinsicht für Schöffen im Hinblick auf eine gleichberechtigte, sachlich fundierte Entscheidung generell für zulässig, wenn nicht sogar im Einzelfall für geboten (Schäfer in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 30 GVG Rdn. 2 b; Kissel, GVG 2. Aufl. § 30 Rdn. 2 bis 4; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 42. Aufl. § 30 GVG Rdn. 2; Rieß JR 1987, 389, 391 ff.; Terhorst MDR 1988, 809; Hanack JZ 1972, 314; Schreiber in FS für Welzel S. 941, 956; Volk in FS für Dünnebier S. 373, 382 f.; a.A. Eberhard Schmidt JR 1961, 31).

Der Senat braucht hier nicht zu entscheiden, ob die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Überlassung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen an die Schöffen noch aufrechterhalten werden kann, oder ob den Bedenken des 1. Strafsenats (aaO) und der ablehnenden Meinung in der Literatur der Vorzug zu geben ist, wozu er allerdings neigt. Jedenfalls hält er die Überlassung von Tonbandprotokollen als Hilfsmittel zum besseren Verständnis der Beweisaufnahme über abgehörte Telefongespräche in der Hauptverhandlung für zulässig. Er kann dies, ohne vorlegen zu müssen, entscheiden, weil es sich bei der Überlassung solcher Unterlagen um einen wesentlich anders gelagerten Sachverhalt als bei der Kenntnisnahme des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen handelt, bei dem die Bewertung des Tatverdachts durch die Staatsanwaltschaft im Vordergrund steht.

Nach § 30 Abs. 1 GVG üben die Schöffen ihr Richteramt grundsätzlich im gleichen Umfang, mit gleichem Stimmrecht und in gleicher Verantwortung wie die Berufsrichter aus. Sie haben dabei an einer Vielzahl von Entscheidungen in der Hauptverhandlung mitzuwirken, die Aktenkenntnis voraussetzen, wie etwa Vorliegen eines Vereidigungsverbotes nach § 60 Nr. 2 StPO, Berechtigung einer Auskunftsverweigerung nach § 55 StPO, Zulässigkeit von Fragen nach § 242 StPO und andere im Freibeweisverfahren zu treffende Entscheidungen. Zwar können sich die Schöffen die erforderliche Tatsachengrundlage auch durch einen entsprechenden Sachvortrag eines Berufsrichters verschaffen, doch widerspricht es grundsätzlich der gebotenen Gleichstellung, sie von jeglicher unmittelbarer Kenntnisnahme aus den Akten auszuschließen. Andernfalls bestünde die Gefahr, daß die Schöffen insbesondere in komplizierten Verfahren gegenüber den Berufsrichtern benachteiligt und zu bloßen Statisten werden (Schreiber aaO S. 953).

Demgegenüber hat die vom Reichsgericht (RGSt 69, 120, 124) angeführte Gefahr einer unzulässigen Einflußnahme des Akteninhalts auf die Urteilsfindung nicht ein solches Gewicht, daß sie den Ausschluß der Schöffen von jeglicher Aktenkenntnis rechtfertigt. Zum einen können die Berufsrichter entsprechend ihrer Pflicht, die Schöffen bei der Erfüllung ihrer Aufgabe zu unterstützen (vgl. Nr. 126 Abs. 2 RiStBV), durch entsprechende Erläuterungen dazu beitragen, daß auch diese den Unterschied zwischen den in den Akten schriftlich niedergelegten vorläufigen Ermittlungsergebnissen und den ausschließlich der Entscheidung zugrundezulegenden Ergebnissen der Hauptverhandlung erfassen. Im übrigen sind Schöffen auch sonstigen Einflußnahmen durch wertende Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung und in wesentlich stärkerem Maße durch tendenziöse Berichterstattung der Medien ausgesetzt, von denen sie sich ebenfalls freimachen müssen, um zu einem unbeeinflußten Urteil zu gelangen. Bei diesen von außen kommenden Einwirkungen geht die Rechtsprechung davon aus, daß der Schöffe seine Pflicht, ihnen keinen Einfluß zu gewähren und seine Überzeugungen ausschließlich aufgrund der Hauptverhandlung zu gewinnen, kennt und beachtet (BGHSt 22, 289, 294). Ebensowenig ist in der Verlesung der vollständigen Gründe eines im Revisionsrechtszug aufgehobenen Urteils eine unzulässige Beeinflussung der Schöffen gesehen worden (BGH GA 1976, 368). Schließlich wird von ihnen erwartet, daß sie sich etwa nach erfolgter Erhebung eines Beweises wegen eines später zutage tretenden Verwertungsverbots von diesem Beweisergebnis innerlich freimachen. Eine entsprechende Kritikfähigkeit ist den Schöffen auch gegenüber dem Akteninhalt zuzubilligen.

Für dieses Ergebnis spricht zudem, daß der Gesetzgeber den Schöffen durch das mit dem StVÄG 1979 eingeführte und durch das StVÄG 1987 erweiterte Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 StPO die Kenntnisnahme von Urkunden nicht nur gestattet, sondern sogar ausdrücklich vorschreibt (vgl. Rieß JR 1987, 389, 392).

Die Rüge der Verletzung des § 261 StPO hat schon deswegen keinen Erfolg, weil die in den Tonbandprotokollen enthaltenen Zusätze erläuternder und wertender Art durch ergänzende Beweisaufnahme in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind.

Die auf die Überlassung dieser Unterlagen gestützten Ablehnungsgesuche sind somit ebenfalls unbegründet. Die Zusätze sind weder vom Umfang noch vom Inhalt her geeignet, die Besorgnis der Befangenheit der Schöffen zu begründen.

Externe Fundstellen: BGHSt 43, 36; NJW 1997, 1792; NStZ 1997, 506; NStZ 1997, 509; StV 1997, 450

Bearbeiter: Rocco Beck