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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 89/93, Urteil v. 23.06.1993, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 3 StR 89/93 - Urteil vom 23. Juni 1993 (LG Krefeld)

BGHSt 39, 239; Konkurrenzverhältnis zwischen Kindesentziehung und Freiheitsberaubung bei fehlendem Strafantrag; Ausschluß eines Richters, wenn er in der Sache Zeuge ist (Erlangung von dienstlichem Wissen innerhalb des anhängigen Verfahren); unzulässige Beweiserhebung.

§ 235 Abs. 1 StGB; § 238 Abs. 1 StGB; § 239 Abs. 1 StGB; § 22 Nr. 5 StPO; § 244 Abs. 3 S. 1 StPO

Leitsätze

1. Das Fehlen eines Strafantrags wegen Kindesentziehung hindert nicht die Verfolgung des Täters wegen damit in Tateinheit begangener Freiheitsberaubung zum Nachteil des Kindes. (BGHSt)

2. Eine dienstliche Wahrnehmungen des erkennenden Richters, die die laufende Hauptverhandlung und das anhängige Verfahren betreffen, können in zulässiger Weise durch eine dienstliche Äußerung in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Ein Beweisantrag auf Vernehmung des Richters als Zeugen hinsichtlich der so gemachten Wahrnehmungen, wäre auf eine im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO unzulässige Beweiserhebung gerichtet. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Krefeld vom 8. Oktober 1992 wird das Verfahren auf Antrag des Generalbundesanwalts nach § 154a Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt, soweit der Angeklagte wegen Nötigung verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Anklagten der Staatskasse zur Last.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung und mit Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Nach den Feststellungen drang der Angeklagte mit zwei gesondert verfolgten Mitgliedern seiner der Roma-Volksgruppe zugehörigen Familie in die Wohnung einer anderen Roma-Familie ein, um deren 15-jährige Tochter Simona S. zu entführen und zur Ehe mit einem Angehörigen der Familie des Angeklagten zu bringen. Den hinzueilenden Vater des Mädchens, Ion I., veranlaßte der Angeklagte mit erhobenem Messer zur Flucht, die das Mädchen mit den Armen schützende Mutter Maria S. stach er mit zwei Messerstichen nieder. Danach verbrachten die Täter das Mädchen für zumindest einige Tage an einen unbekannten Ort.

1. Die Verfahrensrügen haben keinen Erfolg. Die in der Hauptverhandlung vernommene Zeugin Simona S. suchte nach Abschluß der Beweisaufnahme den Vorsitzenden der erkennenden Strafkammer in seinem Dienstzimmer auf und erklärte, entgegen ihren früheren Bekundungen sei nicht der Angeklagte, sondern ihr Vater der Täter der Messerstiche gewesen. Der Vorsitzende brach das Gespräch sofort ab, veranlaßte die Wiedereröffnung der Beweisaufnahme zur erneuten Vernehmung dieser Zeugin und fertigte über den Vorgang einen Aktenvermerk. Nachdem in dem Fortsetzungstermin die Zeugin unerreichbar blieb, beantragte der Verteidiger in einem Hilfsbeweisantrag die Vernehmung des Vorsitzenden über dieses Gespräch. Das Landgericht hat diesen Antrag nicht förmlich verbeschieden, seiner Beweiswürdigung jedoch das Geschehen zugrundegelegt (UA S. 34).

Die Revision rügt eine Verletzung der §§ 338 Nr. 2, § 22 Nr. 5 StPO, weil der Vorsitzende als benannter Zeuge vom weiteren Verfahren ausgeschlossen gewesen sei, ferner des § 244 Abs. 3 StPO, weil der Hilfsbeweisantrag nicht verbeschieden worden sei, und des § 261 StPO, weil die Strafkammer den Vorgang nicht durch eine Zeugenvernehmung des Vorsitzenden, sondern durch Verwertung dessen privaten Wissens in der Beratung gewonnen habe.

Die Rügen sind nicht den Formerfordernissen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechend erhoben. Hierzu müssen die den Verfahrensmangel ergebenden Tatsachen vollständig angegeben werden, um dem Revisionsgericht eine zutreffende Bewertung zu ermöglichen. Mit ihrer Darstellung hat die Revision den Eindruck erweckt, der Vorgang sei als privates Wissen des Vorsitzenden in die Beratung eingeflossen, verschweigt aber, daß der Vorsitzende bei Beginn der Fortsetzungsverhandlung in einer dienstlichen Erklärung den wesentlichen Inhalt seines Aktenvermerks über die Vorsprache der Zeugin bekannt gemacht hatte (Protokoll der Hauptverhandlung, Bl. 348 d.A.). Das hätte dargelegt werden müssen.

Die Rügen wären auch nicht begründet. Der Vorsitzende hat sein Wissen über dieses Geschehen während des Laufs des anhängigen Verfahrens in seiner Eigenschaft als Vorsitzender dienstlich erlangt und in nicht zu beanstandender Weise durch eine dienstliche Erklärung in die Hauptverhandlung eingebracht.

Darin hat er - mit Recht - alle Prozeßbeteiligten von den Verfahrenstatsachen unterrichtet, nämlich dem Erscheinen der Zeugin, seinem sofortigen Abbrechen des Gesprächs, dem Grund zum Wiedereintreten in die Beweisaufnahme und der erneuten Ladung der Zeugin, sowie ferner - insoweit auch für die Schuldfrage von Bedeutung - von der angekündigten Aussageänderung, ehe er, was er zutreffend sofort getan hat, das Gespräch abbrechen konnte. Weder eine solche dienstliche Erklärung (vgl. BGH, Urteil vom 8. Dezember 1976 - 3 StR 363/76, zitiert bei Rissing-van Saan, MDR 1993, 310, 311 Fußnote 7), noch der Umstand der Benennung als Zeuge (BGHSt 14, 219, 220), führen zu einem Ausschluß als erkennender Richter nach § 22 Nr. 5 StPO. Denn der Richter hat keine Wahrnehmungen mitgeteilt, die er "außerhalb des anhängigen Prozesses" gemacht hatte, wie das für einen Zeugen kennzeichnend ist (BGH aaO). Er hat nicht etwa sein früher "schriftlich fixiertes und der Strafverfolgung übermitteltes Wissen von der angeklagten Straftat zum Gegenstand der eigenen Würdigung" gemacht (Schmid, GA 1980, 285, 298), sondern das, was er im Zusammenhang mit der laufenden Hauptverhandlung wahrnehmen mußte. Solche dienstliche Wahrnehmungen des erkennenden Richters, die die laufende Hauptverhandlung und das anhängige Verfahren betreffen, können in zulässiger Weise durch eine dienstliche Äußerung in die Hauptverhandlung eingeführt werden; ein dahingehender Beweisantrag auf Vernehmung des Richters wäre auf eine im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO unzulässige Beweiserhebung gerichtet (vgl. Kleinknecht/Meyer StPO 40. Aufl. § 244 Rdn. 49). Seinem gesetzlichen Richter darf der Angeklagte durch ein Ereignis dieser Art nicht entzogen werden.

2. Der Schuldspruch wegen Freiheitsberaubung zum Nachteil von Simona S. hat Bestand. Ihm steht nicht entgegen, daß die Handlung des Angeklagten zugleich den Tatbestand der Kindesentziehung nach § 235 Abs. 1 StGB erfüllt und der hierfür nach § 238 Abs. 1 StGB erforderliche Strafantrag nicht vorliegt. Die Mutter des Kindes hat einen Strafantrag nicht gestellt. Ob der mit ihr in nichtehelicher Gemeinschaft zusammenlebende Vater berechtigt war, Strafantrag zu stellen, kann offen bleiben, weil in seiner notariell beglaubigten Erklärung vom 23. April 1992 eine Rücknahme des Strafantrags zumindest gegenüber dem Angeklagten zu sehen ist.

Denn das Strafantragserfordernis des § 238 Abs. 1 StGB erstreckt sich nicht auf eine tateinheitlich mit der Kindesentziehung verwirklichte Freiheitsberaubung zum Nachteil des Kindes.

Für das Verhältnis von § 237 StGB zu § 239 StGB hat die Rechtsprechung den Grundsatz entwickelt, daß das Fehlen eines Strafantrags wegen Entführung gegen den Willen der Entführten auch die Verfolgung des Täters wegen Freiheitsberaubung ausschließt, wenn diese das Mittel der Entführung ist. Dann nämlich ist die Entführung ein Spezialfall der Freiheitsberaubung, und sie verdrängt diese im Wege der Gesetzeskonkurrenz (BGHSt 19, 320 f. - zur Nötigung -; 28, 18, 19; BGHR StGB § 239 I Konkurrenzen 2, 5; Strafantrag 1). Der undifferenzierten Übertragung dieser Rechtsprechung auf das Verhältnis der Kindesentziehung zur Freiheitsberaubung (so OLG Düsseldorf JR 1981, 386, 387 mit zust. Anm. von Bottke; BGH, Beschluß vom 20. Juni 1989 - 4 StR 82/89; Vogler in LK 10. Aufl. § 238 Rdn. 1; Eser in Schönke/Schröder, StGB 24. Aufl. § 238 Rdn. 5; Dreher/Tröndle, StGB 46. Aufl. § 238 Rdn. 2) vermag der Senat in den Fällen nicht zu folgen, in denen sich die Freiheitsberaubung gegen das Kind richtet. Eine Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen nach § 132 Abs. 2 GVG ist im Hinblick auf die genannte Entscheidung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 20. Juni 1989 nicht geboten, weil es sich bei der dort geäußerten Auffassung um ein obiter dictum handelt und der Entscheidung des 4. Strafsenats im übrigen ein (mit dem vorliegenden Fall) nicht vergleichbarer anderer Sachverhalt zugrundeliegt.

Von ausschlaggebender Bedeutung ist hier, daß zwischen Kindesentziehung und Freiheitsberaubung zum Nachteil des Kindes keine Gesetzeskonkurrenz (Spezialität) besteht, die es im Verhältnis der §§ 237, 239 StGB rechtfertigt, bei Fehlen eines Strafantrags die Verfolgbarkeit des verdrängten Offizialdelikts nicht wiederaufleben zu lassen. Vielmehr liegt Tateinheit zwischen Kindesentziehung und Freiheitsberaubung zum Nachteil des Kindes vor (Vogler in LK 10. Aufl. § 235 Rdn. 35; Lackner, StGB 20. Aufl. § 235 Rdn. 6; Dreher/Tröndle, StGB 46. Aufl. § 235 Rdn. 11). Während § 237 und § 239 StGB in ihrem kongruenten Bereich das gleiche Rechtsgut, nämlich die Freiheit der entführten Frau, schützen, haben § 235 und § 239 StGB unterschiedliche Rechtsgüter im Auge. Der Tatbestand der Kindesentziehung schützt das elterliche oder sonstige familienrechtliche Sorgerecht; dem Interesse des Kindes dient die Vorschrift nur mittelbar (BGHSt 1, 364; 10, 376, 378; Vogler aaO § 235 Rdn. 1; Dreher/Tröndle aaO § 235 Rdn. 2). Dementsprechend darf auch nur der Sorgeberechtigte, nicht aber das entzogene Kind selbst Strafantrag stellen (Vogler aaO § 238 Rdn. 1 m.w.Nachw.). Dies hat zur Folge, daß eine Freiheitsberaubung zum Nachteil eines entzogenen Kindes ein weitergehendes, nicht vom Tatbestand des § 235 StGB umfaßtes Rechtsgut verletzt, weshalb zwischen beiden Delikten Tateinheit besteht. Dem entspricht es, daß nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch im Verhältnis von § 237 StGB zu § 239 StGB ein fehlender Strafantrag einer Bestrafung wegen Freiheitsberaubung dann nicht entgegensteht, wenn letztere einen über das Tatunrecht der Entführung hinausgehenden selbständigen Unrechtsgehalt erlangt hat und zwischen beiden Tatbeständen Tateinheit anzunehmen ist (BGH MDR 1991, 1021).

Demgegenüber vermag der Hinweis, daß sich "typischerweise" ein Kind durch Gewalt den in § 235 StGB genannten Personen nur so entziehen lasse, daß es zugleich genötigt und seiner Freiheit beraubt werde und deshalb eine Erstreckung des Strafantragserfordernisses von § 235 auf §§ 239, 240 StGB erforderlich sei, um die Entscheidungsbefugnis des Verletzten nicht auszuhöhlen (Bottke in der Anm. zu OLG Düsseldorf JR 1981, 387, 389), schon in tatsächlicher Hinsicht nicht zu überzeugen. Eine Kindesentziehung muß nicht stets gegen den Willen des Kindes erfolgen. So gibt es in dem für die Anwendung des § 235 StGB bedeutsamen Bereich des Streites geschiedener oder getrennt lebender Elternteile um das gemeinsame Kind Fälle, in denen das Kind in die Entziehung einwilligt und damit weder genötigt, noch seiner Freiheit beraubt wird. Ähnliches gilt, wenn den leiblichen Eltern das Personensorgerecht entzogen worden ist und die Kinder in Heimen oder bei Pflegeeltern untergebracht sind oder wenn eine Jugendliche sich durch ihren Liebhaber den Sorgeberechtigten entziehen läßt. Es ist zu bedenken, daß nur das Verhältnis der Gesetzeskonkurrenz, nicht aber das der Tateinheit, die Verdrängung des Grundtatbestandes bei fehlendem Strafantrag rechtfertigen kann und daß die durch § 235 StGB in ihrem Sorgerecht geschützten Personen in § 238 Abs. 1 StGB in erster Linie eine Dispositionsfreiheit nur dahingehend erhalten, ob die Verletzung ihrer eigenen Rechtsgüter verfolgt werden soll. Dieses Recht wird durch die Verfolgung wegen der Verletzung des Rechtsgutes einer anderen Person nicht ausgehöhlt, allenfalls mittelbar tangiert.

3. Im übrigen hat die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung, auch hinsichtlich der Angriffe gegen die Beweiswürdigung, keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgezeigt.

Der Strafausspruch hat Bestand. Der Senat kann ausschließen, daß die Strafkammer bei Wegfall der tateinheitlich verwirklichten Nötigung eine geringere Strafe verhängt hätte. Das Tatgericht hat die Strafe den gleichwertigen Strafrahmen der § 223a Abs. 1, § 239 Abs. 1 StGB entnommen und der in Tateinheit begangenen Nötigung bei der Strafbemessung ersichtlich kein Gewicht beigemessen.

Externe Fundstellen: BGHSt 39, 239; NJW 1993, 2758; NStZ 1994, 80; StV 1993, 507

Bearbeiter: Rocco Beck