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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 670/96, Urteil v. 30.04.1997, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 2 StR 670/96 - Urteil vom 30. April 1997 (LG Kassel)

BGHSt 43, 82; Strafvereitelung durch Unterlassen (Garantenpflicht von Strafvollzugsbeamten, Straftaten, die Anstaltsbedienstete an Gefangenen verübt haben, anzuzeigen; Garantenstellung; Rechtsgut); keine allgemeine Anzeigepflicht von Amtsträgern.

§ 258 Abs. 1 StGB; § 13 Abs. 1 StGB

Leitsätze

1. Strafvollzugsbeamte einer Justizvollzugsanstalt begehen keine Strafvereitelung durch Unterlassen, wenn sie Straftaten, die Anstaltsbedienstete an Gefangenen verübt haben, nicht bei den Strafverfolgungsbehörden anzeigen. (BGHSt)

2. Das gilt auch für leitende Beamte einer Vollzugsanstalt. (Bearbeiter)

3. Strafvereitelung kann durch pflichtwidriges Unterlassen begangen werden. Dazu genügt aber nicht jede Pflichtwidrigkeit. Die Handlungspflicht, die der Täter versäumt, muss vielmehr die Abwendung des tatbestandsmäßigen Erfolgs zum Gegenstand haben, ihm also gerade zur Wahrung desjenigen Rechtsguts auferlegt sein, dem der Schutz des Straftatbestands gilt (Garantenpflicht, BGHSt 38, 388, 389; BGHR StGB § 257 Abs. 1 Absicht 1). (Bearbeiter)

4. Rechtsgut des § 258 StGB ist die staatliche Strafrechtspflege. Eine Garantenpflicht trifft mithin nur solche Personen, denen das Recht die Aufgabe zuweist, Belange der Strafrechtspflege wahrzunehmen oder zumindest zu fördern. Das bedeutet für das Delikt der Strafverfolgungsvereitelung (§ 258 Abs. 1 StGB), dass für die Abwendung des Vereitelungserfolgs nur einstehen muss, wer von Rechts wegen dazu berufen ist, an der Strafverfolgung mitzuwirken, also in irgendeiner Weise dafür zu sorgen oder dazu beizutragen, dass Straftäter nach Maßgabe des geltenden Rechts ihrer Bestrafung oder sonstigen strafrechtlichen Maßnahmen zugeführt werden. (Bearbeiter)

5. Außerhalb des Bereichs, der den Amtsträgern der Strafverfolgung zugewiesen ist, besteht für Beamte grundsätzlich keine allgemeine Pflicht, ihnen bekannt gewordene Straftaten anzuzeigen. (Bearbeiter).

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 5. September 1996 aufgehoben.

Die Angeklagten werden freigesprochen.

Die Kosten des Verfahrens und die den Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

I.

Das Landgericht hat die Angeklagten wegen Strafvereitelung zu Freiheitsstrafen von je sechs Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Dem liegt im wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde:

Am 24. Juli 1994 kam es in der Untersuchungshaftanstalt Kassel zu einer Gefangenenmeuterei mit Geiselnahme, die am folgenden Tage von einem Einsatztrupp der GSG 9 gewaltsam beendet wurde. Polizeifahrzeuge brachten an den beiden folgenden Tagen Gruppen von Meuterern in die Justizvollzugsanstalt Kassel I. Die Angeklagten waren damals leitende Beamte dieser Anstalt, und zwar der Angeklagte K. als Verwaltungsdienstleiter, Vollzugsabteilungsleiter für den E-Flügel (Gefängnisklinik) und weiterer Stellvertreter des Anstaltsleiters, der Angeklagte F. als Leiter des psychologischen Dienstes und Vollzugsabteilungsleiter für den A-Flügel.

Am Nachmittag des 26. Juli sah die Anstaltspsychologin L. als sie - durch ungewöhnlichen Lärm gestört - aus ihrem Dienstzimmer trat, wie Meuterer, die aus der Untersuchungshaftanstalt eingetroffen waren, bei der Aufnahme (beim Gang von A 1 nach A 2, während ihrer Entkleidung und auf dem anschließenden Weg in die Zellen) von Vollzugsbediensteten ohne ersichtlichen Grund geprügelt und mit Gummiknüppeln geschlagen wurden.

Am 27. Juli trat der Anstaltsleiter G. nach zweitägiger Abwesenheit seinen Dienst wieder an und erfuhr in der Frühbesprechung, es gebe Gerüchte, daß Gefangene geschlagen worden seien. Er forderte den Angeklagten F. auf, "diesen Dingen nachzugehen". Dieser vernahm daraufhin den Gefangenen Fr., der angab, er habe zwar nichts gesehen, aber zwei Tage vorher Geräusche und Hilfeschreie gehört. Am selben Tage unterrichtete Frau L. den Angeklagten F. in allen Einzelheiten über ihre Wahrnehmungen.

Am 28. Juli hörte der Anstaltsleiter G. den Gefangenen Fr. nochmals an und verfügte den Vorgang sodann schriftlich "zur Einleitung disziplinarrechtlicher Ermittlungen" an den Angeklagten K. Dieser lehnte den Auftrag ab und begründete seine Weigerung in einer am Folgetag überreichten schriftlichen Erklärung damit, daß er befangen sei, weil er am Transport der Gefangenen beteiligt und zeitweise auf der Station A 1 anwesend gewesen sei.

Spätestens am 29. Juli berichtete der Angeklagte F. dem Angeklagten K. von seinem Gespräch mit Frau L.. Keiner der beiden informierte die Anstaltsleitung darüber. Stattdessen kamen sie überein, noch einmal mit Frau L. zu sprechen, und verabredeten sich mit ihr "auf ein Bier" in einer Kasseler Gaststätte.

Bei dem Gespräch, das am 1. August stattfand, ging es sofort um die Vorfälle vom 26. Juli und deren Behandlung. Die Angeklagten wollten von Frau L. wissen, was sie vorhabe. Es fiel die Bemerkung "Wenn Sie am Montag im 'Spiegel' stehen wollen, können Sie gleich zur Staatsanwaltschaft gehen". Frau L. signalisierte, "daß sie selbst nicht aktiv zu werden gedenke, sie vielmehr alles in K.'s und F.'s Hände(n) lassen wolle". Die Angeklagten erklärten, "daß es auch um ihre Köpfe gehe". Des weiteren brachten sie das Gespräch "in subtiler Weise" auf Frau L.'s befristeten Arbeitsvertrag und dessen eventuelle Verlängerung. Auch erwähnten sie den Fall eines Gefängnispsychologen, gegen den als Folge seiner Anzeige eines Vollzugsbediensteten wegen Gefangenenmißhandlung ein Verfahren wegen falscher Verdächtigung eingeleitet worden war. Es wurde nicht ausdrücklich vereinbart, daß Frau L. schweigen solle. Tatsächlich behielt sie aber ihr Wissen zunächst für sich.

Im Herbst 1994 erstattete ein Gefangener Strafanzeige gegen Vollzugsbedienstete wegen Körperverletzung im Amt. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf. Sämtliche Meuterer wurden vernommen; alle bis auf einen behaupteten, geschlagen worden zu sein. Anfang 1996 meldete sich Frau L. bei der Staatsanwaltschaft. Gegen etwa zwölf Vollzugsbedienstete wurde Anklage erhoben. Drei von ihnen sind - aus tatsächlichen Gründen - freigesprochen worden. In den übrigen Fällen stand bei Verkündung des angefochtenen Urteils eine Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens noch aus.

Das Landgericht hat das Verhalten der Angeklagten als Strafvereitelung (Strafverfolgungsvereitelung zugunsten von Vollzugsbediensteten) gewertet. Sie hätten den Tatbestand des § 258 Abs. 1 StGB sowohl durch pflichtwidriges Unterlassen als auch durch aktives Tun verwirklicht: zum einen dadurch, daß sie der Anstaltsleitung Frau L.'s Angaben über die Gefangenenmißhandlungen nicht mitteilten, zum anderen dadurch, daß sie bei dem Gespräch in der Gaststätte "in unredlicher Weise" auf sie "eingewirkt" und sie "zum Schweigen veranlaßt" hätten.

II.

Die Revisionen der Angeklagten gegen dieses Urteil haben mit der jeweils erhobenen Sachbeschwerde Erfolg. Die Verurteilung wegen Strafvereitelung hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Die Angeklagten sind vielmehr freizusprechen.

1. Strafvereitelung durch Unterlassen liegt nicht vor.

Strafvollzugsbeamte einer Justizvollzugsanstalt begehen keine Strafvereitelung (§ 258 Abs. 1 StGB) dadurch, daß sie Straftaten, die Anstaltsbedienstete an Gefangenen verübt haben, nicht bei den Strafverfolgungsbehörden anzeigen. Das gilt auch für leitende Beamte einer Vollzugsanstalt. Das Landgericht meint, die Angeklagten seien verpflichtet gewesen, die Angaben von Frau L. sofort der Anstaltsleitung zu berichten - sie hätten "aufgrund ihrer dienstlichen Stellung als führende Kräfte in der Justizvollzugsanstalt derlei Dinge nicht einfach für sich behalten dürfen". Das ist zwar richtig, trägt aber eine Verurteilung wegen Strafvereitelung nicht. Allerdings kann dieses Delikt auch durch pflichtwidriges Unterlassen begangen werden. Dazu genügt aber nicht jede Pflichtwidrigkeit. Die Handlungspflicht, die der Täter versäumt, muß vielmehr die Abwendung des tatbestandsmäßigen Erfolgs zum Gegenstand haben (§ 13 Abs. 1 StGB), ihm also gerade zur Wahrung desjenigen Rechtsguts auferlegt sein, dem der Schutz des Straftatbestands gilt (Garantenpflicht, BGHSt 38, 388, 389; BGHR StGB § 257 Abs. 1 Absicht 1). Daran fehlt es. Für die Angeklagten bestand - ungeachtet der Dienstpflichtwidrigkeit ihres Verhaltens - eine solche Handlungspflicht nicht.

Rechtsgut des § 258 StGB ist die staatliche Strafrechtspflege (h.M., Lackner/Kühl, StGB 21. Aufl. § 258 Rdn. 1; Ruß in LK 11. Aufl. § 258 Rdn. 1, jeweils m.w.N.). Eine Garantenpflicht trifft mithin nur solche Personen, denen das Recht die Aufgabe zuweist, Belange der Strafrechtspflege wahrzunehmen oder zumindest zu fördern. Das bedeutet für das Delikt der Strafverfolgungsvereitelung (§ 258 Abs. 1 StGB), daß für die Abwendung des Vereitelungserfolgs nur einstehen muß, wer von Rechts wegen dazu berufen ist, an der Strafverfolgung mitzuwirken, also in irgendeiner Weise dafür zu sorgen oder dazu beizutragen, daß Straftäter nach Maßgabe des geltenden Rechts ihrer Bestrafung oder sonstigen strafrechtlichen Maßnahmen zugeführt werden (Lackner/Kühl a.a.0. Rdn. 7a). Diese Voraussetzungen, unter denen der Pflichtige die Stellung eines Schutz- oder Obhutsgaranten einnimmt, trafen auf die Angeklagten nicht zu.

a) Als Beamte im Strafvollzug gehörten sie nicht zum Kreis derjenigen, denen die Strafverfolgung als amtliche Aufgabe anvertraut ist (Strafrichter, Staatsanwälte, Polizeibeamte, Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft, vgl. §§ 160, 161, 163 Abs. 1 StPO, § 152 GVG). Anders als diese Amtsträger, für die im übrigen mit § 258 a StGB (Strafvereitelung im Amt) ein Sondertatbestand gilt, haben Strafvollzugsbeamte keine Aufgaben der Strafverfolgung wahrzunehmen. Daran ändert es nichts, daß sie ebenfalls mit Strafe "befaßt sind" und das Strafvollzugswesen Teil der Strafrechtspflege ist (zur Systematik vgl. Kaiser/Kerner/Schöch, Strafvollzug 4. Aufl. § 2 Rdn. 92 ff). Die dadurch vermittelte Sachnähe beider Bereiche begründet keine übergreifenden Zuständigkeiten (so auch Volckart, Anm. zu OLG Hamburg StV 1996, 606, 608 ff).

Außerhalb des Bereichs, der den Amtsträgern der Strafverfolgung zugewiesen ist, besteht für Beamte keine allgemeine Pflicht, ihnen bekanntgewordene Straftaten anzuzeigen (allgemeine Meinung, Stree in Schönke/Schröder, StGB 25. Aufl. § 258 Rdn. 19; Jakobs, Strafrecht AT 2. Aufl. 29. Abschn. Rdn. 77; Wache in KK StPO 2. Aufl. § 158 Rdn. 26; Rieß in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 158 Rdn. 2, 4; Roxin, Strafverfahrensrecht 24. Aufl. § 37 Rdn. 6; Schlüchter, Strafverfahren 2. Aufl. Rdn. 392). Zwar gibt es Ausnahmen von diesem Grundsatz; keine dieser Ausnahmen liegt jedoch vor.

b) Für Strafvollzugsbeamte gilt insbesondere keine der gesetzlichen Bestimmungen, die Gerichten oder Behörden mit anderer Sachzuständigkeit in einzelnen Beziehungen die Pflicht auferlegen, bei Verdacht oder Wahrnehmung einer Straftat die Strafverfolgungsbehörden zu unterrichten (so § 159 Abs. 1 StPO auch für Gemeindebehörden bei unnatürlichem Tod oder Leichenfund, § 183 Satz 1 GVG auch für Zivilgerichte bei Straftaten in der Sitzung, § 6 SubvG für alle Gerichte und Behörden bei Subventionsbetrug) oder die Abgabe einer bei ihnen anhängigen Sache an die Strafverfolgungsbehörde vorschreiben (so § 41 Abs. 1 OWiG für die Verwaltungsbehörde im Bußgeldverfahren, § 29 Abs. 3 Satz 1 WDO für den Disziplinarvorgesetzten im Wehrdisziplinarverfahren). Anders als das österreichische Recht (§ 84 Abs. 1 StPO, abgedruckt bei Bydlinski, Österreichische Gesetze Nr. 270) kennt das deutsche Recht keine allgemeine Pflicht der Behörden, bei Verdacht einer ihren Wirkungsbereich betreffenden und von Amts wegen zu verfolgenden Straftat Anzeige zu erstatten. Eine derartige Pflicht folgt insbesondere nicht schon aus dem Grundsatz gegenseitiger Rechts- und Amtshilfe (Art. 35 Abs. 1 GG), der die Verschiedenheit der Zuständigkeiten gerade voraussetzt, nicht aber Zuständigkeiten begründet.

Des weiteren ergibt sich für Strafvollzugsbeamte auch aus Dienst- und Verwaltungsvorschriften keine Verpflichtung, strafbare Handlungen, die Bedienstete der Anstalt an Gefangenen verübt haben, bei den Strafverfolgungsbehörden anzuzeigen. Allerdings schreibt Nr. 9 der Dienst- und Sicherheitsvorschriften für den Strafvollzug vor, daß die Bediensteten dem Anstaltsleiter oder seinem Beauftragten alle wichtigen Vorgänge unverzüglich zur Kenntnis zu bringen und alle Beobachtungen zu melden haben, die - unter anderem - für die Behandlung der Gefangenen und die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt bedeutsam sind (DSVollz, abgedruckt bei Calliess/Müller-Dietz, StVollzG 6. Aufl. Anh. 1, in Hessen geltend in der Fassung des RdErl. d. MdJ v. 29. Oktober 1976, JMBI. S. 979). Daß die Angeklagten hiergegen verstoßen haben, indem sie die Angaben von Frau L. der Anstaltsleitung verschwiegen, steht außer Frage. Diese Pflichtversäumnis kann aber Strafbarkeit wegen Strafvereitelung nicht begründen. Die Mitteilungspflicht nach Nr. 9 DSVollz dient ausschließlich der Gewährleistung eines funktionsfähigen und ordnungsgemäßen Strafvollzugs, nicht dagegen etwa auch den Belangen der Strafverfolgung; es fehlt damit an der Nämlichkeit der Schutzzwecke (so für Anzeigepflichten im Strafvollzug: B. Wagner in Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Staatsanwaltschaft Schleswig-Holstein, 1992, S. 511, 518 im Anschluß an Sangenstedt, Garantenstellung und Garantenpflicht, 1989 S. 529 ff, 532 ff; Rudolphi NStZ 1991, 361 und Samson in SK-StGB 5. Aufl. § 258 Rdn. 47). Das geht schon daraus hervor, daß die Mitteilungspflicht nicht an Straftaten anknüpft und nur gegenüber dem Anstaltsleiter besteht. Insoweit gilt hier das gleiche wie für Nr. 3 VV zu § 156 StVollzG (in Hessen geltend nach Maßgabe des RdErl. d. MdJ v. 1. Juli 1978, JMBl. S. 289), wonach - auf einer Verwaltungsstufe darüber - dem Anstaltsleiter die Pflicht obliegt, der Aufsichtsbehörde (in Hessen: dem Minister der Justiz) unverzüglich über außergewöhnliche Vorkommnisse zu berichten.

Eine Pflicht der Angeklagten zur Strafanzeige wurde auch nicht dadurch begründet, daß der Anstaltsleiter den Angeklagten F. dazu aufforderte, den Gerüchten über Häftlingsmißhandlungen "nachzugehen", und dem Angeklagten K. die Weisung zur "Einleitung disziplinarrechtlicher Ermittlungen" erteilte. Diese, zu innerdienstlichen Zwecken gegebenen Weisungen hätten zwar für die Angeklagten zusätzlicher Anlaß sein müssen, den Anstaltsleiter über die von Frau L. geschilderten Vorfälle zu unterrichten, erlegten ihnen aber nicht die Verpflichtung auf, zum Zweck strafrechtlicher Verfolgung der Schuldigen tätig zu werden.

Verwaltungsvorschriften, die es dem Anstaltsleiter oder anderen leitenden Strafvollzugsbeamten ausdrücklich zur Pflicht machen würden, Straftaten des Vollzugspersonals gegenüber Gefangenen bei den Strafverfolgungsbehörden anzuzeigen, gibt es in Hessen nicht. Daher braucht nicht entschieden zu werden, ob solche Vorschriften überhaupt Garantenpflichten begründen könnten, deren Außerachtlassung bei Verwirklichung der sonstigen Tatbestandsmerkmale Strafvereitelung wäre (ablehnend: Sangenstedt a.a.O. S. 531 ff; B. Wagner a.a.O. S. 522; Menche DRiZ 1987, 396; Schnapp/Düring NJW 1988, 738; bejahend dagegen: Lackner/Kühl a.a.O.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 42. Aufl. § 158 Rdn. 6; Scheu NJW 1983, 1708); Bedenken hiergegen könnten deshalb bestehen, weil damit Verwaltungsvorschriften eine über den betroffenen Verwaltungsbereich hinausgehende Verpflichtungskraft zuerkannt würde, obgleich sie sich selbst bloß aus der - allein im Rahmen des eigenen Sachbereichs bestehenden - Geschäftsleitungs- und Organisationsgewalt der normsetzenden Verwaltungsinstanz legitimieren (grundlegend: Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968 S. 456, 496 und passim; vgl. auch Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl. § 20 IV 4).

d) Dahingestellt bleiben kann ferner, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen Dienstvorgesetzte verpflichtet sind, Straftaten ihrer Untergebenen bei Meidung des Vorwurfs der Strafvereitelung anzuzeigen (str., im Grundsatz ablehnend für Beamte, soweit sie nicht polizeiliche Aufgaben wahrnehmen: RGZ 134, 162; RGSt 73, 265; 74, 178; ausführlich dazu Rudolphi a.a.O., auch Els RiA 1993, 229; vgl. im übrigen Sangenstedt a.a.O.; Tröndle, StGB 48. Aufl. § 258 Rdn. 6; Lackner/Kühl, Stree, Samson jeweils a.a.O., Ruß a.a.O. § 258 Rdn. 18; Welzel, Strafrecht 11. Aufl. § 76 III 1 b; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT Teilbd. 2, 7. Aufl. § 100 Rdn. 28; Wache a.a.O. Rdn. 30; KMR-Müller 7. Aufl. § 158 Rdn. 9 f und Rieß a.a.O.). Zutreffend ist allerdings die in Rechtsprechung und Schrifttum vertretene Ansicht, daß der Dienstvorgesetzte Strafanzeige erstatten muß, wenn jede andere Entscheidung ermessensmißbräuchlich wäre, ihm also für den rechtsfehlerfreien Gebrauch seines Ermessens keine andere Wahl bleibt (Ermessensreduzierung auf Null, vgl. dazu BVerwGE 11, 95, 97; BVerwG DVBl. 1969, 586; BVerwG NVwZ 1988, 525 f; Erichsen in Erichsen/Martens, Allg. VerwR, 9. Aufl. § 10 Rdn. 22). Auch kann nicht zweifelhaft sein, daß hier ein solcher Fall vorlag, der Dienstvorgesetzte des Vollzugspersonals also bei Kenntnis der von Frau L. gegebenen Darstellung verpflichtet gewesen wäre, Strafanzeige zu erstatten. Dies ändert jedoch nichts daran , daß diese Verpflichtung für ihn keine Garantenstellung zur Wahrnehmung von Belangen der Strafverfolgung zu begründen vermochte. Maßstab und Leitlinie für die Ausübung seines Ermessens, ob er gegen untergebene Vollzugsbedienstete wegen solcher Verfehlungen Strafanzeige erstattet, bleibt im Rahmen des ihm übertragenen Aufgabenbereichs allein das Interesse an der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung eines geordneten Strafvollzugs in der Anstalt. Nur unter diesem Gesichtspunkt kann sich - wie hier - sein Ermessensspielraum derart verengen, daß er die Taten bei der Strafverfolgungsbehörde anzeigen muß. Die ihm daraus erwachsende Pflicht "schlägt" aber nicht in eine Verpflichtung zur Wahrnehmung oder Förderung von Strafverfolgungsbelangen "um".

Davon abgesehen obliegt eine Pflicht zur Strafanzeige unter dem erörterten Gesichtspunkt auch nur dem Dienstvorgesetzten. Die Angeklagten waren jedoch nicht Dienstvorgesetzte des Vollzugspersonals, das nach Frau L.'s Wahrnehmungen Gefangene mißhandelt hatte. Dienstvorgesetzter ist, wer für beamtenrechtliche Entscheidungen über die persönlichen Angelegenheiten der ihm nachgeordneten Beamten zuständig ist (§ 4 Abs. 2 Satz 1 HBG, ebenso § 3 Abs. 2 BBG; vgl. Schütz, Beamtenrecht 5. Aufl. C § 3 BBG Rdn. 21 ff). Das traf zwar auf den Anstaltsleiter zu, der die Dienstaufsicht über alle Anstaltsbediensteten führt (Arnold ZfStrVo 1991, 165, 167; zu Stellung und Aufgaben des Anstaltsleiters, vgl. § 156 StVollzG sowie Kaiser/Kerner/Schöch a.a.O. § 10 Rdn. 18 ff), nicht aber auf die Angeklagten. Für den Angeklagten F. bedarf dies keiner weiteren Darlegung. Für den Angeklagten K. gilt im Ergebnis nichts anderes; er war zwar einer der Stellvertreter des Anstaltsleiters, hatte jedoch dessen Funktionen nicht wahrzunehmen, weil dieser im maßgeblichen Zeitpunkt nicht an der Ausübung seines Amtes verhindert war, ein Vertretungsfall also nicht vorlag.

e) Schließlich folgt eine Pflicht der Angeklagten zur Strafanzeige auch nicht aus den für den Strafvollzug allgemein geltenden Rechtsgrundsätzen und Zielvorgaben. Allerdings stellt die Mißhandlung von Gefangenen durch Vollzugspersonal nicht nur eine ohnehin schon schwerwiegende Straftat dar (Körperverletzung im Amt, § 340 StGB); sie beeinträchtigt auch nachhaltig das Vollzugsziel, den Gefangenen zu einem Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu befähigen (§ 2 StVollzG). Wenn gerade diejenigen, die - auch durch ihr eigenes Vorbild - die Gefangenen zu einem straffreien Leben hinführen sollen (Nr. 1 DSVollz), selbst Straftaten gegen sie verüben, wird das Ziel der Resozialisierung in grober Weise verfehlt und ein darauf ausgerichteter Strafvollzug unglaubwürdig. Daher besteht in solchen Fällen regelmäßig ein besonderes öffentliches Interesse daran, die Täter nicht nur disziplinarisch zu maßregeln (vgl. BayVGH, Urt. v. 26. Mai 1982 - Nr. 16 B 82 A. 620, abgedruckt bei Schütz a.a.O. ES/B 11 1.2. Nr. 2), sondern auch strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

Das reicht indessen nicht aus, um für Beamte des Strafvollzugs eine Anzeigepflicht zu begründen, deren Verletzung als Strafvereitelung strafbar sein könnte (a.A. für die Anzeige von Straftaten Gefangener: OLG Hamburg NStZ 1996, 102 mit zustimmender Anm. Klesczewski; dagegen jedoch Volckart Anm. StV 1996, 608 und Küpper Anm. JR 1996, 524; ablehnend auch B. Wagner, Lackner/Kühl und Stree, jeweils a.a.O.). Der Rückgriff auf allgemeine Rechtsgrundsätze und Zielvorgaben des Strafvollzugs belegt zwar ein besonderes öffentliches Interesse an der strafrechtlichen Verfolgung von Häftlingsmißhandlungen, ergibt jedoch - auch bei Anwendung aller Mittel und Methoden der Gesetzesauslegung - keine Verhaltensnorm, die Strafvollzugsbeamte zur Anzeige solcher Straftaten verpflichtet. Sie folgt insbesondere nicht aus § 2 StVollzG, der eine bloße Zielbestimmungsnorm ist, nicht aber einzelne Handlungsgebote enthält. Auch sonst gibt es keine Vorschrift, die als Rechtsgrundlage einer nach Voraussetzungen, Inhalt und Umfang näher bestimmten Anzeigepflicht in Betracht käme. Anders als im Wehrdisziplinar- und Wehrstrafrecht, das bei Straftaten Untergebener gesetzliche Abgabe- und Meldepflichten vorsieht und Verstöße hiergegen strafrechtlich sanktioniert (§ 29 Abs. 3 Satz 1 WDO, § 40 WStG), fehlt im Strafvollzugsrecht eine vergleichbare, für Straftaten von Vollzugsbediensteten getroffene Regelung.

2. Die Verurteilung der Angeklagten hat auch unter dem Gesichtspunkt einer Strafvereitelung durch aktives Tun keinen Bestand.

Fraglich ist bereits, ob die Wertung des Landgerichts, die Angeklagten hätten Frau L. "zum Schweigen veranlaßt", in den Feststellungen zum Verlauf des Gesprächs vom 1. August eine hinlänglich sichere Stütze findet. Zweifel hieran ergeben sich daraus, daß Frau L. bereits zu Anfang der Unterredung, gefragt, was sie vorhabe, "signalisierte", sie wolle selbst nichts unternehmen, sondern "alles" den Angeklagten überlassen. Weiter ist zu bedenken, daß, wer einen selbst nicht anzeigepflichtigen, jedoch zur Strafanzeige entschlossenen Tatzeugen von seinem Entschluß abbringt, dadurch Strafvereitelung nur begeht, wenn er sich hierzu unlauterer Mittel - wie etwa einer Täuschung oder Drohung - bedient (BGH, Urt. v. 4. Juli 1961 - 1 StR 183/61; Tröndle a.a.O.; Stree a.a.O. Rdn. 18; Ruß a.a.0. Rdn. 15; Preisedanz, StGB 30. Aufl. § 258 Anm. II 3 c bb; Olshausen, StGB 11. Aufl. § 257 Anm. 17 e; anders noch RGSt 14, 88 f). Als Gebrauch eines solchen Mittels käme hier allenfalls der "subtile" Hinweis auf Frau L.'s befristeten Arbeitsvertrag und dessen Verlängerung in Betracht; darin könnte eine (zumindest versuchte) Strafvereitelung liegen, falls - was aus den Feststellungen aber nicht deutlich hervorgeht - die Angeklagten in diesem Zeitpunkt geglaubt haben sollten, Frau L. sei noch oder wieder geneigt, ihr Wissen zu offenbaren, und müsse deshalb, wolle man dies vermeiden, umgestimmt werden.

Dies kann jedoch letztlich auf sich beruhen. Denn das Landgericht hat nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen, daß die Angeklagten mit ihrer Einwirkung auf Frau L. auch das Ziel verfolgten, sich selbst vor Strafe zu schützen (§ 258 Abs. 5 StGB). Zwar verneint es eine solche Absicht mit der Begründung, die Angeklagten hätten sich nach ihren insoweit glaubhaften Angaben zur Zeit der Häftlingsmißhandlungen nicht am Tatort befunden und könnten sich deshalb keinesfalls einer durch Unterlassen begangenen Körperverletzung im Amt schuldig gemacht haben. Indessen erörtert es nicht die Bedeutung des Umstands, daß die Angeklagten bei dem Gespräch vom 1. August erklärt hatten, es gehe "auch um ihre Köpfe". Das Landgericht hat es für möglich gehalten, daß sie Frau L. dies nur vorspiegelten, um sie "für das gewünschte Verhalten geneigter zu machen"; damit bleibt aber zugleich auch die Möglichkeit, daß sie tatsächlich "um ihre Köpfe" fürchteten. In diesem Fall hätte die Annahme nahegelegen, daß sich ihre Furcht nicht allein auf disziplinarische, sondern auch auf strafrechtliche Folgen bezog; in diese Richtung konnte nicht nur die vom Angeklagten K. abgegebene "Befangenheitserklärung" deuten, sondern ebenso die Bemerkung, Frau L. könne, wenn sie im "Spiegel" stehen wolle, "gleich zur Staatsanwaltschaft gehen". Jedenfalls liegt ein Beweiswürdigungsmangel darin, daß sich das Landgericht bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 258 Abs. 5 StGB nicht mit der genannten Äußerung der Angeklagten auseinandergesetzt hat. Dieser Rechtsfehler nötigt zur Aufhebung des Urteils. Darüber hinaus ist aber auch auszuschließen, daß eine neue Verhandlung noch zu Feststellungen führen könnte, die eine tragfähige Grundlage für die Verneinung des Strafausschließungsgrunds der Selbstbegünstigung bieten würden, zumal bei Entscheidung der Frage, ob die Angeklagten auch Strafverfolgung befürchteten, ihre eigenen, insoweit nicht widerlegbaren Angaben zugrunde zu legen wären. Der Senat entscheidet deshalb in der Sache selbst und erkennt auf Freispruch.

Externe Fundstellen: BGHSt 43, 82; NJW 1997, 2059; NStZ 1997, 597; StV 1997, 526

Bearbeiter: Rocco Beck