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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 232

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 245/15, Urteil v. 14.10.2015, HRRS 2016 Nr. 232


BGH 2 StR 245/15 - Urteil vom 14. Oktober 2015 (LG Frankfurt a. M.)

Eventualvorsatz (Beweiswürdigung des Tatrichters: Tötungs- und Körperverletzungsvorsatz).

§ 16 StGB; § 261 StPO; § 212 StGB; § 223 Abs. 1 StGB

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 13. Oktober 2014 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. In Serbien erlittene Auslieferungshaft hat es im Verhältnis eins zu eins angerechnet. Auf den Adhäsionsantrag des Nebenklägers H. hat es ihn im Wege eines Anerkenntnisurteils verurteilt, an diesen 20.000 Euro nebst Zinsen abzüglich am 21. September 2014 bereits gezahlter 10.000 Euro zu zahlen. Gegen den strafrechtlichen Teil dieses Urteils richten sich die Revision des Angeklagten und die zu seinen Ungunsten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft. Die Rechtsmittel haben jeweils Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts arbeitete der Angeklagte zur Tatzeit im Spielcasino „S.“ des Zeugen D., der außerdem die benachbarte Gaststätte „I.“ betrieb, in welcher der mit dem Angeklagten befreundete Zeuge A. angestellt war. Am 27. Mai 2013 drangen etwa zehn Männer, die zum Teil mit Baseballschlägern oder Holzstöcken bewaffnet waren, in das „I.“ ein. Darunter war auch der Zeuge C., der für den Betreiber des benachbarten Lokals „Co.“ arbeitete. Die Männer beschädigten Einrichtungsgegenstände und wollten den Zeugen D. schlagen, der sich aber mit einem Barhocker schützen konnte. Bei diesem Vorfall waren der Angeklagte und der Zeuge A. anwesend.

Am folgenden Tag, dem 28. Mai 2013, arbeitete der Angeklagte wieder in der Spielhalle. Gegen 14.00 Uhr kam C. mit einer unbekannten Person zu ihm und fragte vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung vom Vortag nach dem Aufenthaltsort des Inhabers D. Der Angeklagte schickte ihn weg. Kurz darauf kam C. zurück und bat den Angeklagten, mit ihm nach draußen zu kommen, um mit ihm zu sprechen. Der Angeklagte folgte der Aufforderung und unterhielt sich längere Zeit mit C. auf dem Bürgersteig vor der Spielhalle.

Kurz vor 14.40 Uhr kam A. hinzu. Sofort eskalierte die Situation. Zwei unbekannt gebliebene Männer, die aus dem Lokal „Co.“ hinzukamen, und C. drangen auf A. ein. C. war dabei mit einem Holzstock und einer seiner Begleiter mit einem Teleskopschlagstock bewaffnet. Auch A. hatte einen Holzstock in der Hand, den er entweder bereits mitgebracht oder rasch aus seinem Fahrzeug geholt hatte. C. schlug auf A. ein, der einige Meter zurückwich.

Der Angeklagte lief in die Spielhalle und holte dort unter dem Tresen eine geladene Selbstladepistole hervor. Diese lud er beim sofortigen Herauslaufen aus der Spielothek durch, ohne hinzuschauen. Während dessen flüchtete A. Die drei Angreifer blieben neben dem Heck eines vor der Spielhalle geparkten Fahrzeugs stehen. Der Angeklagte wollte sie vertreiben und richtete die Waffe auf die Straße rechts neben die Männer. Er gab in rascher Folge aus wenigen Metern Entfernung drei Schüsse ab. Dann liefen die Angreifer davon und der Angeklagte gab zunächst noch zwei Schüsse in die Luft ab, zehn Sekunden später einen weiteren.

Der Angeklagte hatte die drei Angreifer weder verletzen noch töten wollen. Ihm war aber bewusst, dass auf der gegenüberliegenden Straßenseite schräg gegenüber der Spielothek vor der Drogenhilfeeinrichtung“ F .“ in einer Entfernung von etwa fünfzehn Metern zahlreiche Personen auf der Straße standen. Er nahm deren Verletzung durch abprallende Geschosse in Kauf.

Eines der drei von dem Angeklagten auf die Straße abgefeuerten Geschosse zerlegte sich beim Aufprall auf den Asphalt in seinen Kupfermantel und den Bleikern. Der Bleikern traf den Nebenkläger H., der gerade die Straße überquert und den Bürgersteig vor dem“ F.“ erreicht hatte, an der linken Seite des Rückens in Höhe des zweiten Lendenwirbels. Das Geschossteil drang in leicht ansteigendem Winkel bis in den Bereich der Bauchdecke vor, wo es in der Bauchmuskulatur steckenblieb. Infolge des Durchschusses kam es zu Verletzungen des Darms. Jedoch wurden sonstige Organe und größere Blutgefäße nicht verletzt. Ein weiteres Geschossteil streifte den Zeugen Si. am linken Oberschenkel und fügte ihm ein Hämatom sowie eine oberflächliche Hautverletzung zu.

II.

Die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft gegen dieses Urteil sind jeweils begründet. Die Beweiswürdigung des Landgerichts erweist sich sowohl zu Gunsten als auch zu Ungunsten des Angeklagten als rechtsfehlerhaft.

1. Soweit das Landgericht angenommen hat, der Angeklagte habe die drei Angreifer weder töten noch verletzen wollen, begegnet das Urteil allerdings keinen rechtlichen Bedenken.

Nach den Feststellungen, die unter anderem auf die Aufzeichnungen einer Überwachungskamera gestützt sind, hat der Angeklagte gezielt neben diese Personen geschossen. Die Annahme, dass auch nicht damit zu rechnen gewesen sei, einer der Angreifer hätte durch ein ungefähr rechtwinklig nach der Seite erfolgendes Abprallen eines Geschosses getroffen werden können, ist nicht zu beanstanden.

2. Rechtsfehlerhaft ist dagegen die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe den Nebenkläger H. und den Zeugen Si. einerseits nicht töten wollen, andererseits aber mit der Möglichkeit gerechnet und diese billigend in Kauf genommen, dass er sie durch abprallende Geschosse verletzen könnte. Dabei ist zu Ungunsten des Angeklagten die Motivlage nicht ausreichend beachtet, zu seinen Gunsten die Gefährlichkeit der Abgabe mehrerer Schüsse aus einer großkalibrigen Pistole auf die Oberfläche einer asphaltierten Straße innerhalb einer belebten Stadt nicht nachvollziehbar gewürdigt worden.

a) Hat der Angeklagte die auf seinen Freund eindringenden Angreifer weder töten noch verletzen wollen, so leuchtet es kaum ein, dass er gleichwohl die Verletzung von unbeteiligten Personen für möglich gehalten und diese billigend in Kauf genommen haben soll, obwohl er dafür noch weniger Anlass hatte, als für eine - ungewollte - Verletzung der Angreifer. Bei dieser Sachlage wäre die Annahme von bedingtem Körperverletzungsvorsatz rechtlich nur hinzunehmen, wenn alle anderen Umstände des Einzelfalls lückenlos abgewogen worden wären. Daran fehlt es jedoch.

Das Landgericht hat nicht ausreichend beachtet, dass sich die Situation für den Angeklagten schlagartig geändert hat und das Handlungsmotiv daher abrupt eingetreten ist. Nachdem er längere Zeit mit dem Zeugen C. gesprochen hatte, ohne dass dabei aggressive Tendenzen erkennbar geworden waren, tauchte der Zeuge A. auf. „Sofort eskalierte die Situation.“ Nach dieser dramatischen Änderung der Lage lief der Angeklagte in das Lokal, holte die Pistole, lud diese im Laufen mit einem Handgriff durch, trat vor die Tür und schoss sofort auf die Straße. Angesichts der Schnelligkeit dieser Ereignisse kann der Angeklagte die Möglichkeit, durch abprallende Geschosse andere Personen zu treffen, falsch eingeschätzt haben. Die Schlussfolgerung des Landgerichts auf das Bewusstsein der Präsenz zahlreicher unbeteiligter Personen daraus, dass er in der Phase des ruhigen Gesprächs mit dem Zeugen C. die Umgebung hatte wahrnehmen können, greift insoweit zu kurz.

Bei der Beweiswürdigung zur Vorsatzfrage ist auch nicht berücksichtigt worden, dass der Nebenkläger H. zur Zeit der Schussabgabe gerade die Straße überquert hatte. Ob er sich zu dem Zeitpunkt, als er von dem abprallenden Geschoss getroffen wurde, genau in der Schussrichtung befunden hatte, lässt sich den Feststellungen nicht entnehmen. Auch hinsichtlich des Zeugen Si. ist dort nicht geklärt, ob das Geschossteil, das ihn gestreift hat, in Schussrichtung geflogen ist oder seitlich abgelenkt wurde. Die Tatsache, dass sich das Projektil in Kupfermantel und Bleikern zerlegt hat, lässt einen seitlichen Wechsel der Flugrichtung - unterhalb eines Winkels von 90 Grad neben den Angreifern - nahe liegend erscheinen. Ob der Angeklagte dies in seinen Vorsatz aufgenommen hat, ist nicht erörtert worden.

Jedenfalls ein weiteres Geschoß war, wenn die Geschädigten nicht sogar von Teilen desselben Geschosses getroffen wurden, in dieselbe Richtung abgefeuert worden. Wäre auch dies mit dem bedingten Vorsatz des Angeklagten geschehen, unbeteiligte Personen zu verletzen, so wäre der tateinheitliche Versuch eines weiteren Erfolgsdelikts in Betracht zu ziehen gewesen. Dies hat das Landgericht nicht erwogen. Die (unbekannten) Gründe für ein Absehen davon können aber auch gegen die Annahme sprechen, der Angeklagte habe den Nebenkläger H. und den Zeugen Si. mit bedingtem Vorsatz im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB verletzen wollen.

Für eine Fehleinschätzung der Lage durch den Angeklagten könnte ferner die anschließende Schussabgabe in die Luft sprechen, die darauf hindeuten kann, dass er - entsprechend seiner Einlassung - die Verletzung der Geschädigten am Tatort nicht wahrgenommen hat.

Schließlich hat das Landgericht die Motivlage des Angeklagten, die Angreifer zu vertreiben, ohne diese zu töten oder zu verletzen, nicht erkennbar bei der Prüfung der weiteren Frage berücksichtigt, ob der Angeklagte demgegenüber zumindest die Verletzung von unbeteiligten Personen gewollt oder billigend in Kauf genommen hat. Seine Annahme, er habe sich mit dem Risiko der Verletzung unbeteiligter Personen abgefunden, „weil ihm die sofortige und unbedingte Vertreibung der drei Männer wichtiger war“, beschränkt sich auf die Behauptung dieser inneren Tatsache. Sie steht in deutlichem Kontrast zu der Annahme, dass dem Angeklagten zugleich „eine tödliche Verletzung von Menschen keineswegs gleichgültig war“. Das Wollensmoment des Körperverletzungsvorsatzes hätte bei dieser Sachlage einer zusätzlichen Begründung bedurft. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass das Landgericht einen Tötungsvorsatz auch gegenüber den Unbeteiligten - der Sache nach im Zweifel zu Gunsten des Angeklagten - ausgeschlossen hat; dann bleibt die festgestellte mindere Vorsatzrichtung angesichts des Gegenindizes durch gezielte Vermeidung einer Verletzung der Angreifer immer noch weitergehend erklärungsbedürftig. Sie versteht sich nicht aufgrund der äußeren Umstände des Geschehensablaufs gleichsam von selbst.

b) Soweit das Landgericht angenommen hat, der Angeklagte habe den Nebenkläger H. und den Zeugen Si. - oder andere unbeteiligte Personen - nicht töten wollen, weil es sich bei der Abgabe von Schüssen auf die Straßenoberfläche um eine Reduzierung des Risikos gegenüber einer direkten Schussabgabe in Richtung auf Personen gehandelt habe, erscheint die Beweiswürdigung in Folge der übrigen Erwägungen allerdings umgekehrt ebenfalls rechtsfehlerhaft.

Der Angeklagte hat - was freilich nicht näher festgestellt ist - in flachem Winkel auf die Straße geschossen; dann ist die Verringerung der Geschossgeschwindigkeit durch den Aufprall des Projektils auf die Straße jedenfalls deutlich geringer als bei einem steilen Winkel. In relativ flachem Winkel von der Straße abprallende Geschosse aus einer großkalibrigen Pistole, die aus insgesamt kurzer Entfernung von wenigen Metern einen Menschen treffen, sind angesichts der verbleibenden kinetischen Energie kaum weniger für Leib und Leben gefährlich, als solche, die eine Person direkt treffen. Vor allem sind die Risiken, soweit sie bewusst sind, kaum kalkulierbar. So war die Tatsache, dass der Nebenkläger H. einerseits erheblich verletzt wurde, seine Verletzungen andererseits nicht konkret lebensgefährlich waren, nur einem glücklichen Zufall geschuldet. Von einer bewussten Begrenzung des Risikos auf eine Körperverletzung kann deshalb kaum gesprochen werden. Eine das Leben des Geschädigten gefährdende Handlung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) hat das Landgericht nicht erwogen.

c) Nach allem erweist sich sowohl die Annahme, der Angeklagte habe die Geschädigten mit bedingtem Vorsatz zur Verletzung unbeteiligter Personen getroffen, als auch die Annahme, er habe dabei nicht mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt, als rechtsfehlerhaft. Dies zwingt zur Urteilsaufhebung im Ganzen, auch wenn das tateinheitlich abgeurteilte Waffendelikt für sich genommen rechtsfehlerfrei festgestellt wurde.

3. Das im Adhäsionsverfahren ergangene Anerkenntnisurteil bleibt unberührt.

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 232

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede