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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 56

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 10/15, Urteil v. 14.10.2015, HRRS 2016 Nr. 56


BGH 2 StR 10/15 - Urteil vom 14. Oktober 2015 (LG Frankfurt a. M.)

Notwehr (Erforderlichkeit der Notwehrhandlung; sozialethische Einschränkungen des Notwehrrechts: Notwehrprovokation bei sozialethisch zu missbilligendem Vorverhalten).

§ 32 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das Notwehrrecht kann im Hinblick auf ein sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten Einschränkungen unterliegen, wenn ein Angeklagter nach einem vorherigen Streit mit dem Opfer in eine Wohnung mit einem Messer zurückgekehrt und es dort zu einem Angriff des Opfers kommt.

2. Eine sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts ist schon dann zu erwägen, wenn der Angegriffene, der ein Messer bei sich trägt, nach vorherigen Spannungen der Bitte der Wohnungsinhaberin, die Wohnung offenbar zur Vermeidung einer weiteren Konfrontation zu verlassen, nicht nachkommt.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 25. Juni 2014 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des versuchten Totschlags und der tateinheitlich begangenen gefährlichen Körperverletzung freigesprochen. Die Revision der Staatsanwaltschaft, die das Urteil mit der Sachrüge angreift, hat Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts traf der von der Zeugin B. herbeigerufene Angeklagte, der bereits zuvor Alkohol getrunken und Cannabis konsumiert hatte, am Abend des 12. September 2013 in deren Wohnung auf den dort bereits anwesenden Nebenkläger. Alle drei tranken zusammen weiter Alkohol, bis der Nebenkläger im Laufe des Abends sein Handy vermisste und dem Angeklagten vorwarf, er habe dieses entwendet. Dieser bestritt dies vehement, der Nebenkläger beharrte auf seinem Vorwurf, was den Angeklagten, der daraufhin mit 2-3 Schlägen eine Glasscheibe beschädigte, in Rage versetzte. Er verließ die Wohnung der Zeugin B., der Nebenkläger folgte ihm und warf ihm dort erneut vor, das Handy entwendet zu haben. Der Angeklagte antwortete weinerlich, er habe das Handy nicht. Es kam zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf der Angeklagte ausrief: „Hör auf, Du bringst mich noch um“. Schließlich schaffte es der Angeklagte, den Nebenkläger zu beruhigen, beide gingen wieder in die Wohnung der Zeugin B. zurück, wo sich der Angeklagte für die zerbrochene Glasscheibe entschuldigte.

Im weiteren Verlauf des Abends - alle hatten weiter Alkohol getrunken - fragte der Angeklagte den Nebenkläger, ob er ihm 0,5 g Kokain zum Preis von 30 Euro verkaufe, wobei er angab, 25 Euro hierfür am Geldautomaten holen zu wollen. Der Nebenkläger lehnte ab und äußerte sich abfällig über den Angeklagten; er zeigte demonstrativ auf 1000 Euro Bargeld, die er bei sich hatte, und sagte, er habe das Geld des Angeklagten nicht nötig. Der Angeklagte ärgerte sich und teilte dem Nebenkläger mit, dieser könne seinen „Schmodder“ behalten, er hole sich jetzt etwas Besseres. Der Angeklagte ging in Richtung Wohnungstür, als die Zeugin B. ihn am Arm festhielt und bat, nach Hause zu gehen, worauf der Angeklagte kurz die Wohnung verließ. Der Nebenkläger, der sich seinerseits über die Aussage des Angeklagten geärgert hatte, stand hastig von der Couch auf, ging schnell in Richtung des Angeklagten und drohte, ihn fertig machen zu wollen. Der Angeklagte, der zwischenzeitlich wieder in die Wohnung zurückgekehrt war, hielt nunmehr ein Messer mit einer Klingenlänge von 15 cm vor seiner Brust und rief in Richtung des Nebenklägers, dieser solle ihn in Ruhe lassen und sich „verpissen“. Die Zeugin B. ging, nachdem sie dies gehört hatte, schleunigst in Richtung des Wohnzimmers, um nicht zwischen die Fronten zu geraten. Der Nebenkläger ging ungeachtet des Messers auf den Angeklagten los und schlug ihm mit der rechten Faust zweimal gegen den Kopf. Daraufhin stach der Angeklagte dem Nebenkläger mit dem Messer ca. 4 cm unterhalb der rechten Brustwarze in den Brustkorb, um ihn erheblich zu verletzen. Dabei nahm er den Tod des Nebenklägers nicht billigend in Kauf. Der Nebenkläger erlitt infolge der Stichverletzung einen Pneumothorax sowie eine Lungeneinblutung. Unmittelbar nach dem Stich sah der Angeklagte, dass der Nebenkläger stark blutete, führte ihn ins Wohnzimmer zurück und entschuldigte sich bei ihm, er habe das nicht gewollt. Der Nebenkläger verabschiedete sich mit den Worten „Ich sterbe“ und ging vor das Haus, wohin ihm der Angeklagte folgte. Vorher hatte er mit seinem Handy den Notruf angewählt und das Telefon der Zeugin B. gegeben, damit diese Rettungskräfte informieren solle. Nachdem der Angeklagte und der Nebenkläger in Richtung Gehweg gegangen waren, gingen sie in die Wohnung zurück. Vor dem Eintreffen der alarmierten Rettungskräfte ging der Angeklagte erneut vor das Haus und warf einen bei sich geführten Schlagring in ein Gebüsch neben der Haustür. Der Angeklagte, der Nebenkläger und die Zeugin B. standen während des gesamten Tatzeitraums erheblich unter Alkoholeinfluss.

Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass der Angeklagte den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung verwirklicht habe, seine Tat aber durch Notwehr gerechtfertigt sei.

2. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

Die Annahme der Strafkammer, der Angeklagte habe in Notwehr gehandelt, ist nicht frei von Rechtsfehlern.

a) Das Landgericht ist aufgrund der getroffenen Feststellungen zwar zutreffend davon ausgegangen, dass der Angeklagte durch die Faustschläge des Nebenklägers rechtswidrig angegriffen worden ist, auch wenn man berücksichtigt, dass der Angeklagte den Nebenkläger aufgefordert hatte, ihn in Ruhe zu lassen und „sich zu verpissen“. Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass darin ein rechtswidriger Angriff des Angeklagten auf die Handlungsfreiheit des Nebenklägers gelegen hätte, wären die Faustschläge aber schon kein erforderliches Mittel zur Abwehr dieses Angriffs.

b) Die Strafkammer hat auch noch ohne Rechtsfehler angenommen, dass die Notwehrhandlung des Angeklagten erforderlich war.

Rechtlich unbedenklich ist die Strafkammer dabei davon ausgegangen, dass der Angeklagte durch das sichtbare Vorzeigen des Messers dessen Einsatz konkludent angedroht hat. Entgegen der Ansicht der Revision hat sich das Landgericht auch in ausreichendem Maße mit der Frage befasst, ob dem Angeklagten in der konkreten Situation ein weniger gefährliches Verteidigungsmittel zur Abwehr des Angriffs zur Verfügung stand. Die Strafkammer hat rechtlich unbedenklich dargelegt, dass die Erfolgsaussichten seiner Verteidigungshandlung erheblich eingeschränkt gewesen wären, hätte er versucht, auf weniger sensible Körperpartien des Nebenklägers wie beispielsweise Arme oder Beine einzustechen. Ein Versuch des Angeklagten, gezielt auf die Extremitäten des Nebenklägers einzustechen, die wesentlich schwerer zu treffen sind als der Rumpfbereich, wäre angesichts der räumlichen Enge des Tatorts sowie der Alkoholisierung des Angeklagten, bei der ohne nähere Darlegung auch von einer Beeinträchtigung der motorischen Fähigkeiten ausgegangen werden kann, mit einem unzumutbar hohen Fehlschlagrisiko einhergegangen.

Keiner ausdrücklichen Erörterung bedurfte es entgegen der Ansicht der Revision im Übrigen, ob der Angeklagte vorrangig zur Abwehr des Angriffs seinen in der Hosentasche mitgeführten Schlagring hätte einsetzen müssen. Zu Recht hat der Generalbundesanwalt darauf hingewiesen, dass es bereits nicht ersichtlich sei, warum der Schlagring im Vergleich zum Messer ein milderes, weniger gefährliches Mittel gewesen sein sollte.

c) Rechtlichen Bedenken begegnet allerdings die Annahme des Landgerichts, eine Einschränkung des Notwehrrechts sei auch nicht unter sozialethischen Gesichtspunkten geboten. Es ist schon fraglich, auf welcher Tatsachengrundlage die Strafkammer ihre rechtlichen Erwägungen angestellt hat. So erscheint es nach den insoweit unklaren Feststellungen denkbar, dass die feindselige Bemerkung des Nebenklägers, er werde den Angeklagten fertig machen, gefallen ist, bevor der Angeklagte das Haus verlassen und sodann mit einem Messer in der Hand zurückgekehrt ist. In diesem Fall erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass der Angeklagte einen weiteren Angriff durch den Nebenkläger im Hinblick auf das von ihm hervorgeholte Messer vorhergesehen und den darauf folgenden Einsatz „geplant“ oder zumindest mit ihm gerechnet hat. Insoweit unterläge sein Notwehrrecht im Hinblick auf ein sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten Einschränkungen (vgl. BGH, NStZ-RR 2015, 303, 304), mit denen sich das Landgericht, das im Übrigen schon nicht mitteilt, worauf es die Feststellung, der Nebenkläger habe geäußert, den Angeklagten fertig machen zu wollen, gestützt hat, nicht auseinander gesetzt hat.

Aber auch dann, wenn man davon ausginge, dass der Nebenkläger den Angeklagten erst im Augenblick, als er ihn mit einem Messer vor sich stehen sah, mit den Worten angriff, ihn fertig machen zu wollen, ist - schon mit Blick auf die Vorgeschichte und die Bitte der Zeugin, die Wohnung zu verlassen - zu erwägen, ob nicht das Notwehrrecht des Angeklagten deshalb Einschränkungen unterliegt. Die Erwägungen des Landgerichts, das sich zwar mit der Frage einer Einschränkung des Notwehrrechts unter sozialethischen Gesichtspunkten befasst, greifen diese Umstände nicht auf und erweisen sich deshalb als fehlerhaft.

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 56

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede