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HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 621

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 409/14, Urteil v. 25.03.2015, HRRS 2015 Nr. 621


BGH 2 StR 409/14 - Urteil vom 25. März 2015 (LG Kassel)

Eingeschränkte Schuldunfähigkeit (Ausschluss der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit: zweistufige Prüfung).

§ 20 StGB; § 21 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die richterliche Entscheidung, ob die Fähigkeit des Täters, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, bei der Begehung der jeweiligen Tat erheblich vermindert war, besteht in einem aus mehreren Schritten bestehenden Verfahren (vgl. BGH NStZ 2013, 519, 520). Zuerst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein.

2. Die anschließende Frage der Erheblichkeit der Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens ist eine Rechtsfrage, die das Tatgericht selbst zu beantworten hat, nicht der Sachverständige (vgl. BGHSt 43, 66, 77).

3. Wird im Einzelfall eine schwere andere seelische Abartigkeit als Eingangsmerkmal im Sinne von § 20 StGB bejaht, so liegt wegen der damit festgestellten Schwere der Abartigkeit auch eine erhebliche Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens gemäß § 21 StGB nahe.

Entscheidungstenor

I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 17. Februar 2014

1. im Schuldspruch dahin abgeändert, dass der Angeklagte des sexuellen Missbrauchs von Kindern in 119 Fällen, davon

- in zwei Fällen in Tateinheit mit versuchtem schweren sexuellen Missbrauch von Kindern,

- in elf Fällen in Tateinheit mit versuchtem sexuellen Missbrauch Widerstandsunfähiger und

- in einem Fall in Tateinheit mit Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen,

des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 22 Fällen, davon - in zwölf Fällen in Tateinheit mit versuchtem schweren sexuellen Missbrauch Widerstandsunfähiger,

- in sieben Fällen in Tateinheit mit Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen, des Zugänglichmachens kinderpornographischer Schriften in sieben Fällen und des Besitzes kinderpornographischer Schriften schuldig ist,

2. im Straf- und Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

II. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

III. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 119 Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit versuchtem schweren sexuellen Missbrauch von Kindern, in elf Fällen in Tateinheit mit versuchtem sexuellen Missbrauch Widerstandsunfähiger und in zwei Fällen in Tateinheit mit Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen, ferner wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 22 Fällen, davon in zwölf Fällen in Tateinheit mit versuchtem schweren sexuellen Missbrauch Widerstandsunfähiger und in neun Fällen in Tateinheit mit Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen, außerdem wegen Zugänglichmachens kinderpornographischer Schriften in sieben Fällen und wegen Besitzes kinderpornographischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren und anschließender Unterbringung in der Sicherungsverwahrung verurteilt. Außerdem hat es ausgesprochen, dass der Angeklagte allen Nebenklägerinnen jeweils ein Schmerzensgeld von 15.000 Euro nebst "5 % Zinsen über dem Basiszinssatz“ zu zahlen hat, für die Nebenklägerinnen A. und S. O. ab dem 29. Januar 2014, für die Nebenklägerinnen W. und Or. ab dem 14. Februar 2014. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf Verfahrensrügen und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet.

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der Angeklagte an einer sexuellen Deviation im Sinne einer Kernpädophilie. Seit Anfang der 1980er Jahre empfindet er sexuelles Interesse an Mädchen im vorpubertären Alter. Im Herbst 1980 kam es zu einem ersten sexuellen Übergriff auf die damals fünf oder sechs Jahre alte Schwester seiner Freundin. Es folgte eine Vielzahl sexueller Übergriffe auf Mädchen aus dem Umfeld des Angeklagten.

Im Zeitraum von 1994 bis 1996 beging der Angeklagte mehrfach sexuellen Missbrauch der Nebenklägerin D. dadurch, dass er das Kind an der Scheide streichelte. Ab 1998 missbrauchte er die Nebenklägerin Or., indem er das Kind an der Scheide streichelte, es dazu veranlasste, an seinem Glied zu reiben oder versuchte, mit seinem Glied einzudringen. Ab 2003 beging er ähnliche Taten zum Nachteil der Nebenklägerin W., wobei er in einem Teil der Fälle mit seinem Glied oder mit einem Finger in sie eindrang und in einer Reihe von Fällen den Missbrauch beging, während sich das Kind schlafend stellte. Von 2007 bis 2013 missbrauchte der Angeklagte die Nebenklägerin A. O. und von 2009 bis 2013 auch die Nebenklägerin S. O. Einige der Vorfälle filmte er mit einer Kamera.

Vom 5. April 2011 bis zum 31. Juli 2012 machte der Angeklagte kinderpornographische Filmdateien über eine Internettauschbörse anderen Internetnutzern zugänglich. Weil der Angeklagte seinen Computer über ein bis zwei Wochen hinweg durchgängig laufen ließ, hat das Landgericht sieben selbständige Handlungen des Zugänglichmachens kinderpornographischer Schriften angenommen.

Der Angeklagte verfügte zurzeit der Durchsuchung seiner Wohnung über mindestens 2.000 kinderpornographische Dateien.

II.

Die Revision des Angeklagten ist teilweise begründet.

1. Die Verfahrensrügen bleiben aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 24. Oktober 2014 genannten Gründen ohne Erfolg.

2. Soweit sich die Revision mit der Sachrüge gegen den Schuldspruch richtet, führt sie nur zu einer geringfügigen Änderung des Schuldspruchs, weil das Landgericht übersehen hat, dass § 201a StGB erst nach Begehung der Taten in den Fällen 59 bis 61 in Kraft getreten ist. Insoweit muss die tateinheitliche Verurteilung wegen dieses Tatbestands in diesen Fällen entfallen.

3. Der Rechtsfolgenausspruch hat keinen Bestand.

a) Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass der Angeklagte bei keiner der Taten gemäß § 21 StGB in seiner Unrechtseinsichts- oder Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt war.

Die Strafkammer hat sich bei ihrer Einschätzung auf den gerichtlichen Sachverständigen gestützt. Dieser ist zunächst davon ausgegangen, eine schwere andere seelische Abartigkeit des Angeklagten sei nicht anzunehmen. Zu den Auswirkungen der festgestellten Pädophilie hat er später angemerkt, es sei nicht auszuschließen, dass die sexuelle Deviation das Ausmaß einer schweren anderen seelischen Abartigkeit erreicht habe; jedoch sei nicht von einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit auszugehen. Daraus hat das Landgericht entnommen, selbst wenn man die Pädophilie „als schwere andere seelische Abartigkeit einstufe“, habe diese „keine Auswirkungen auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit“ des Angeklagten gehabt.

Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Landgericht von einem falschen rechtlichen Maßstab ausgegangen ist. Die richterliche Entscheidung, ob die Fähigkeit des Täters, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, bei der Begehung der jeweiligen Tat erheblich vermindert war, besteht in einem aus mehreren Schritten bestehenden Verfahren (vgl. BGH, Beschluss vom 12. März 2013 - 4 StR 42/13, NStZ 2013, 519, 520). Zuerst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Die anschließende Frage der Erheblichkeit der Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens ist eine Rechtsfrage, die das Tatgericht selbst zu beantworten hat, nicht der Sachverständige (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 1997 - 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66, 77; Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 53).

Wird im Einzelfall eine schwere andere seelische Abartigkeit als Eingangsmerkmal im Sinne von § 20 StGB bejaht, so liegt wegen der damit festgestellten Schwere der Abartigkeit auch eine erhebliche Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens gemäß § 21 StGB nahe (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Mai 1991 - 4 StR 204/91, BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 20; Beschluss vom 6. Mai 1997 - 1 StR 17/97, BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 31; Fischer, StGB, 62. Aufl., § 21 Rn. 8). Dies hat das Landgericht nicht bedacht, als es die Frage nach dem Vorliegen eines Eingangsmerkmals offen gelassen und die Frage der Erheblichkeit einer hieraus gegebenenfalls resultierenden Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit verneint hat.

Der Senat kann nicht ausschließen, dass bei ordnungsgemäßer Prüfung jedenfalls für einen Teil der abgeurteilten Taten eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten anzunehmen ist. Eine festgestellte Pädophilie kann im Einzelfall die Annahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit und einer hierdurch erheblich beeinträchtigten Steuerungsfähigkeit rechtfertigen, wenn Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhaltensschablone geworden sind, die sich durch abnehmende Befriedigung, zunehmende Frequenz der devianten Handlungen, Ausbau des Raffinements beim Vorgehen und gedankliche Einengung des Täters auf diese Praktik auszeichnen (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Juli 2007 - 4 StR 242/07, NStZ-RR 2007, 337; Beschluss vom 20. Mai 2010 - 5 StR 104/10; NStZ-RR 2011, 170; Beschluss vom 6. Juli 2010 - 4 StR 283/10, NStZ-RR 2010, 304, 305; Beschluss vom 10. September 2013 - 2 StR 321/13, NStZ-RR 2014, 8, 9). Insoweit könnten entgegen der Auffassung des Landgerichts eine gedankliche Einengung des Angeklagten auf sexuelle Handlungen mit Kindern und eine Progredienz der lange andauernden Fehlentwicklung festzustellen sein, die in den letzten Jahren, in denen der Angeklagte zur gleichen Zeit sexuelle Handlungen an mehreren sehr jungen Kindern vornahm und auch nicht mehr mit seiner Ehefrau sexuell verkehrte, zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB geführt haben. Ob und in welchem zeitlichen Umfang dies der Fall ist, kann der Senat anhand der Urteilsgründe nicht feststellen, weshalb er den Strafausspruch im Ganzen aufhebt.

b) Es ist nicht auszuschließen, dass der Rechtsfehler bei der Prüfung von § 21 StGB auch Auswirkungen auf die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung hat, die gemäß § 66 Abs. 2 StGB eine Ermessensentscheidung anhand aller wesentlichen Umstände des Einzelfalls erfordert. Der neue Tatrichter wird gegebenenfalls zu erwägen haben, ob der Angeklagte bei Eingreifen von § 21 StGB gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Mai 2010 - 5 StR 104/10; NStZ-RR 2011, 170).

4. Der Ausspruch über die Adhäsionsanträge bleibt von der Aufhebung des strafrechtlichen Rechtsfolgenausspruchs unberührt. Über seine Aufhebung ist vom neuen Tatrichter auf der Grundlage der Ergebnisse der neuen Hauptverhandlung zu entscheiden (vgl. Senat, Beschluss vom 17. Dezember 2014 - 2 StR 78/14, StV 2015, 292, 293).

Der Senat weist darauf hin, dass er mit Beschluss vom 8. Oktober 2014 - 2 StR 137/14 und 2 StR 337/14 (ZfSch 2015, 203 ff.) bei den anderen Strafsenaten und bei dem Großen Senat des Bundegerichtshofs für Zivilsachen gemäß § 132 GVG angefragt hat, ob an Rechtsprechung festgehalten wird, die bei der Bemessung des Schmerzensgeldes eine Berücksichtigung der Vermögensverhältnisse von Schädiger und Geschädigtem fordert. Der Senat beabsichtigt, diese Rechtsprechung, von der das Landgericht ausgegangen ist, aufzugeben. Nach seiner Ansicht kommt es auf die wirtschaftlichen Verhältnisse von Täter und Opfer für die Bemessung des Schmerzensgeldes nicht an.

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 621

Externe Fundstellen: NStZ 2015, 688 ; StV 2017, 31

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel