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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 332

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 195/11, Beschluss v. 28.12.2011, HRRS 2012 Nr. 332


BGH 2 StR 195/11 - Beschluss vom 28. Dezember 2011 (LG Limburg)

Rechtsfehlerhaft unterbliebene Erzwingung der Aussage eines Zeugen (Ermessensreduktion auf Null; entscheidende Bedeutung einer Zeugenaussage; Aufklärungspflicht).

§ 70 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; § 258 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Hat die Aussage eines in der Hauptverhandlung erschienenen, aber grundlos die Aussage verweigernden Zeugen für die Überzeugungsbildung des Gerichts erhebliche Bedeutung, so gebietet es die Aufklärungspflicht, Anstrengungen zu unternehmen, den Zeugen zu einer Auskunft zu bewegen (BGH StV 1983, 495 f.). Diese können im Einsatz der von § 70 StPO vorgesehenen Zwangsmittel liegen.

2. § 70 StPO dient nicht der Erzwingung wahrheitsgemäßer Aussagen, sondern nur der Beantwortung offener Fragen. Er greift nicht in einer Konstellation, in der es alleine um die Korrektur einer bereits gemachten Äußerung geht, die das Gericht für unzutreffend hält.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Limburg an der Lahn vom 7. Dezember 2010 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und angeordnet, dass drei Monate der Gesamtfreiheitsstrafe als vollstreckt gelten. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, die auf Verfahrensrügen und die Sachbeschwerde gestützt ist. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.

Das Landgericht hat festgestellt, dass der Angeklagte im November 2008, am 2. Februar 2009 und kurz vor dem 28. April 2009 jeweils ein Kilogramm Amphetamin an den deshalb bereits rechtskräftig verurteilten Zeugen Ku. veräußert hat. Zur Beweiswürdigung hat es ausgeführt, es glaube dem Zeugen Ku., soweit dieser die Geschäfte als solche eingeräumt und weiter angegeben hatte, er habe die Betäubungsmittel in allen Fällen von demselben Veräußerer erworben. Die Strafkammer ist dem Zeugen aber nicht darin gefolgt, dass der Lieferant eine andere Person als der Angeklagte gewesen sei.

Von der Täterschaft des Angeklagten im Fall des Betäubungsmittelgeschäfts am 2. Februar 2009 hat es sich durch weitere Indizien überzeugt und ist anhand der Angabe des Zeugen Ku., es sei stets derselbe Veräußerer aufgetreten, davon ausgegangen, dass der Angeklagte dann auch dessen Lieferant des Amphetamins in den weiteren Fällen gewesen sei. Der Zeuge Ku., dem das Gericht kein Auskunftsverweigerungsrecht zugebilligt hat, hat wiederholt die Antwort auf die Frage verweigert, wer der Lieferant gewesen sei.

Bei dieser Sachlage rügt die Revision zu Recht, dass das Landgericht nicht im Rahmen seiner Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO mit Zwangsmitteln nach § 70 StPO auf die Beantwortung der Frage hingewirkt hat. Hat die Aussage eines in der Hauptverhandlung erschienenen, aber grundlos die Aussage verweigernden Zeugen für die Überzeugungsbildung des Gerichts erhebliche Bedeutung, so gebietet es die Aufklärungspflicht, Anstrengungen zu unternehmen, den Zeugen zu einer Auskunft zu bewegen (BGH, Beschluss vom 6. September 1983 - 1 StR 480/83, StV 1983, 495 f.). Daran fehlt es im vorliegenden Fall.

§ 70 StPO dient allerdings nicht der Erzwingung wahrheitsgemäßer Aussagen, sondern nur der Beantwortung der offenen Frage. Eine Konstellation, in der es alleine um die Korrektur einer bereits gemachten Äußerung geht, die das Gericht für unzutreffend hält, liegt hier jedoch nicht vor. Dies ließe sich allenfalls unter Vorwegnahme des Beweisergebnisses annehmen, dass der Zeuge die Unwahrheit gesagt habe, als er angab, der Angeklagte sei nicht der Verkäufer 3 4 der Amphetaminportionen gewesen. Eine solche Vorwegnahme des Beweisergebnisses war hier aber nicht zulässig. Dann bleibt es dabei, dass die Frage nach der Identität des Drogenverkäufers nicht beantwortet worden ist.

Angesichts der entscheidenden Beweisbedeutung der Auskunft des Zeugen innerhalb des Beweisrings, den die Strafkammer zugrunde gelegt hat, blieb hinsichtlich der Anwendung des § 70 StPO auch kein Ermessensspielraum für das Gericht.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht. Es steht nämlich nicht fest, dass der Zeuge Ku. auch bei Anwendung der Zwangsmittel nach § 70 StPO die Frage unbeantwortet gelassen hätte. Ferner ist nicht feststellbar, dass der Zeuge keine Auskunft erteilt hätte, die eine andere Identität des Drogenverkäufers ergeben hätte.

Schließlich ist nicht davon auszugehen, dass die Anwendung der Zwangsmittel nach § 70 StPO unverhältnismäßig gewesen wäre. Zwar kann auch bei erheblicher Beweisbedeutung der Auskunft des Zeugen von der Anwendung der Zwangsmittel als unangemessen abgesehen werden, wenn etwa dem Zeugen oder ihm nahe stehenden Personen im Fall der Beantwortung der Beweisfrage konkrete Gefahren für Leib oder Leben drohen. Dass es sich so verhält, ist hier aber ebenfalls nicht ersichtlich.

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 332

Externe Fundstellen: NStZ 2012, 523; StV 2013, 4

Bearbeiter: Karsten Gaede