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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 146

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 172/11, Urteil v. 19.10.2011, HRRS 2012 Nr. 146


BGH 2 StR 172/11 - Urteil vom 19. Oktober 2011 (LG Darmstadt)

Erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit (Rechtsbegriff; Beurteilungsspielraum; Bewertungsspielraum; schwere andere seelische Abartigkeit; Indiz des Leistungsvermögens).

§ 21 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bei der Frage, ob sich ein medizinisch-psychiatrischer Befund in der Tatsituation "erheblich" auf das Steuerungsvermögen im Sinne des § 21 StGB ausgewirkt hat, handelt es sich um einen Rechtsbegriff, über dessen Voraussetzungen nach ständiger Rechtsprechung das Gericht in eigener Verantwortung und ohne Bindung an die Ausführungen des Sachverständigen zu entscheiden hat (BGHSt 49, 45, 53). Die Beurteilung setzt eine Gesamtwürdigung des Gerichts voraus (vgl. nur BGHSt 43, 77), die darauf einzugehen hat, ob der Täter motivatorischen und situativen Tatanreizen wesentlich weniger Widerstand entgegensetzen konnte als ein Durchschnittsbürger. Dabei ist dem Tatrichter grundsätzlich ein weiter Beurteilungs- und Wertungsspielraum eingeräumt. Hierbei muss besonders geprüft werden, ob sich eine festgestellte schwere seelische Abartigkeit auf die konkret abzuurteilende Tat erheblich schuldmindernd ausgewirkt hat.

2. Ein ungestörtes Leistungsverhalten allein ist kein ausreichender Beweis für ein intaktes Hemmungsvermögen (BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 14).

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 15. Dezember 2010 wird verworfen.

Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Brandstiftung und Sachbeschädigung in jeweils 12 Fällen, wobei es bei einer Brandstiftung und einer Sachbeschädigung beim Versuch blieb, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten, die sich mit der Sachrüge vor allem gegen die Nichtanwendung des § 21 StGB wendet, hat keinen Erfolg.

1. Das sachverständig beratene Landgericht ist von einer schweren anderen seelischen Abartigkeit des Angeklagten im Sinne des § 20 StGB in Form einer "selbstunsicher-vermeidenden Persönlichkeitsstörung in Verbindung mit einer nicht instrumentell motivierten Pyromanie zur Affektregulation im Sinne einer Reduktion der negativen Emotionen" ausgegangen. Eine dadurch "erheblich" verminderte Schuldfähigkeit hat es verneint.

2. Die hiergegen vorgebrachten Einwände der Revision, denen sich der Generalbundesanwalt angeschlossen hat, zeigen keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf.

a) Bei der Frage, ob sich ein medizinisch-psychiatrischer Befund in der Tatsituation "erheblich" auf das Steuerungsvermögen im Sinne des § 21 StGB ausgewirkt hat, handelt es sich um einen Rechtsbegriff, über dessen Voraussetzungen nach ständiger Rechtsprechung das Gericht in eigener Verantwortung und ohne Bindung an die Ausführungen des Sachverständigen zu entscheiden hat (BGHSt 49, 45, 53; NJW 06, 386 f.; NStZ-RR 10, 73 f.; weitere Nachweise bei Fischer StGB, 58. Aufl. 2011, § 21 Rn. 7). Die Beurteilung setzt eine Gesamtwürdigung des Gerichts voraus (vgl. nur BGHSt 43, 77; BGH NStZRR 06, 369), die darauf einzugehen hat, ob der Täter motivatorischen und situativen Tatanreizen wesentlich weniger Widerstand entgegensetzen konnte als ein Durchschnittsbürger. Dabei ist dem Tatrichter grundsätzlich ein weiter Beurteilungsund Wertungsspielraum eingeräumt (BGH, Beschluss vom 24. Juni 2004 - 5 StR 306/03). Hierbei muss besonders geprüft werden, ob sich eine festgestellte schwere seelische Abartigkeit auf die konkret abzuurteilende Tat erheblich schuldmindernd ausgewirkt hat (vgl. BGH NStZ 97, 485 f.; 96, 380, StV 91, 511; weitere Nachweise bei Fischer StGB, 58. Aufl. § 21 Rn. 8).

b) Daran gemessen sind die Ausführungen der Strafkammer, mit denen sie die Erheblichkeit der schweren seelischen Abartigkeit verneint hat, rechtlich nicht zu beanstanden. Das Landgericht war sich der besonderen Begründungsanforderungen ersichtlich bewusst. Es hat sich bei seiner Beurteilung vor allem auf die Tatvorbereitung, das plangemäße und von Reflexion zeugende Vorgehen bei den Taten, die Vorsorge gegen Entdeckung, die erhaltene Leistungsfähigkeit und das Erinnerungsvermögen des Angeklagten gestützt. Dabei handelt es sich um Faktoren, die unter Berücksichtigung des festgestellten Tatablaufes sowie der Angaben des Angeklagten zu den Taten und zu seiner Motivation gewichtige objektive Anhaltspunkte für die Beurteilung der Erheblichkeit einer etwaigen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit darstellen, auch wenn ungestörtes Leistungsverhalten allein kein ausreichender Beweis für ein intaktes Hemmungsvermögen darstellt (vgl. nur BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 14).

Entgegen der Auffassung der Revision, der sich der Generalbundesanwalt angeschlossen hat, ist nicht zu besorgen, dass die Strafkammer dabei die Frage außer Acht gelassen haben könnte, ob und inwieweit der Angeklagte überhaupt in der Lage gewesen wäre, von der jeweils konkreten Tatausführung insgesamt Abstand zu nehmen. Denn das Landgericht hat festgestellt, dass der Angeklagte in allen Fällen bei der Auswahl der Brandobjekte und der Tatausführung umsichtig vorging. Er achtete darauf, dass Personen nicht unmittelbar gefährdet wurden bzw. bei Brandobjekten in der Nähe von Wohnbebauung, dass die Bewohner noch wach waren (UA 7). Darüber hinaus legte er, um seine Feuerwehrkameraden nicht zu gefährden, Brände nur zu Zeitpunkten, zu denen sämtliche Atemschutzgerätschaften auf den Feuerwehrwagen vorhanden waren und nicht gerade repariert oder gewartet wurden (UA 8). Ferner war er stets in der Lage, auf unvorhergesehene Situationen vernünftig zu reagieren, notfalls zuzuwarten oder das ins Auge gefasste Tatobjekt zu wechseln (UA 34). Dabei war er stets darauf bedacht, die Objekte unbeobachtet in Brand zu setzen (UA 34). Außerdem hatte der Angeklagte an jede einzelne der zahlreichen, sich über einen Zeitraum von mehr als 2 1/2 Jahren erstreckenden Taten eine klare und detailreiche, mit den objektiven Gegebenheiten übereinstimmende Erinnerung (UA 33). Schließlich hat sich die Kammer ausdrücklich und detailliert mit den Fällen befasst, bei denen der Sachverständige zunächst "eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht auszuschließen" vermochte (UA 34-36).

Dass das Landgericht aus dieser Vielzahl von Anzeichen, die für eine vom Angeklagten in jedem Einzelfall praktizierte Steuerung seines Verhaltens sprachen, die rechtliche Schlussfolgerung gezogen hat, dass trotz Vorliegens einer schweren seelischen Abartigkeit keine erhebliche Beeinträchtigung seiner Steuerungsfähigkeit im Rechtssinne gegeben war, lag nahe und genügt den in derartigen Fällen zu beachtenden Begründungsanforderungen.

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 146

Bearbeiter: Karsten Gaede