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HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 227

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 456/04, Beschluss v. 26.01.2005, HRRS 2005 Nr. 227


BGH 2 StR 456/04 - Beschluss vom 26. Januar 2005 (LG Köln)

Widerstandsunfähigkeit (geistige Behinderung; Überzeugungsbildung; Begründung).

§ 179 Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 261 StPO; § 267 Abs. 4 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Widerstandsunfähigkeit im Sinne von § 179 StGB setzt voraus, dass der Geschädigte gerade aufgrund seines Zustands zum Tatzeitpunkt zur Abwehr gegenüber den sexuellen Übergriffen des Täters nicht in der Lage war. Eine Widerstandsunfähigkeit in diesem Sinne folgt nicht schon allein daraus, dass der Geschädigte geistig behindert ist.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 1. Juli 2004 mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs einer widerstandsunfähigen Person unter Einbeziehung einer Strafe aus einer anderen Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten (Einzelstrafe vier Jahre und drei Monate) verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.

Nach den Urteilsfeststellungen hat der Angeklagte an einem Tag zwischen März und Mai 2002 den ihm bekannten zur Tatzeit 15jährigen geistig behinderten Geschädigten aufgefordert, ihm dabei zu helfen, in seiner Wohnung einen Schrank aufzubauen und ihm die Vorführung eines Karatevideos versprochen. In der Wohnung legte der Angeklagte ein Pornovideo ein und zog den Geschädigten aus. Auf Aufforderung des Angeklagten kam es zum beiderseitigen Oralverkehr und zum Versuch des Angeklagten, bei dem Geschädigten den Analverkehr auszuführen, wobei er auf den Rücken des Geschädigten ejakulierte. Der Geschädigte leistete keinen Widerstand. Zur geistig-seelischen Verfassung des Geschädigten teilt das Urteil mit, daß dieser eine Schule für geistig Behinderte besuchte. Lesen, Schreiben und Rechnen hatte er bis zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung nicht erlernt, wobei seine Lernschwierigkeiten aber neben seinen kognitiven Defiziten auch durch seine erheblichen Fehlzeiten und seine unwillige Lernhaltung bedingt seien. Mit lebenspraktischen Dingen komme er hingegen besser zurecht. Bei einer Untersuchung durch den Schularzt im Dezember 2001 hat dieser festgestellt, daß der Geschädigte körperlich altersmäßig entwickelt und motorisch weitgehend unauffällig sei, jedoch eine psychomentale Entwicklungsstörung im Sinne einer geistigen Behinderung fortbestehe. Nach Ansicht des Landgerichts war der Geschädigte aufgrund seiner - dem Angeklagten bekannten - geistigen Behinderung widerstandsunfähig in dem Sinne, daß er keinen ausreichenden Widerstandswillen gegen die sexuellen Handlungen bilden und umsetzen konnte, was der Angeklagte erkannte und ausnutzte.

Die Auffassung des Landgerichts, der Geschädigte sei widerstandsunfähig im Sinne von § 179 Abs. 1 Nr. 1 StGB gewesen, begegnet angesichts dieser Feststellungen rechtlichen Bedenken. Sie ist nicht ausreichend mit Tatsachen belegt. Darüber hinaus läßt auch die Formulierung des Landgerichts, "dass (der Geschädigte) einen sexuellen Missbrauch als solchen nicht in dem Maße wie eine gesunde Person seines Alters zu erkennen ....vermag", besorgen, dass das Landgericht die Anforderungen an die Annahme einer Widerstandsunfähigkeit im Sinne von § 179 StGB verkannt hat, die voraussetzt, daß der Geschädigte gerade aufgrund seines Zustands zum Tatzeitpunkt zur Abwehr gegenüber den sexuellen Übergriffen des Angeklagten nicht in der Lage war.

Eine Widerstandsunfähigkeit in diesem Sinne folgt nicht allein daraus, daß der Geschädigte geistig behindert ist (BGH NStZ 2003, 602). Dies hat das Landgericht zwar nicht verkannt, sondern seine Annahme wesentlich auch darauf gestützt, daß nach dem Ergebnis der schulärztlichen Untersuchung der Geschädigte Gefahrensituationen, etwa im Straßenverkehr oder durch fremde Personen "nur völlig unzureichend" einschätzen könne.

Dem Urteil läßt sich nicht entnehmen, daß der als sachverständiger Zeuge vernommene Schularzt sich bei seiner Untersuchung auch mit dem Sexualverhalten des Geschädigten befaßt hat und - falls er sich zu dieser Frage in der Hauptverhandlung geäußert haben sollte - worauf er seine Beurteilung gestützt hat. Aus dem allgemeinen Befund mangelnder Kompetenz bei Gefahreneinschätzung folgt nicht ohne weiteres, daß die Fähigkeit des Geschädigten, eine sexuelle Mißbrauchssituation zu erkennen und dementsprechend einen Widerstandswillen zu bilden, ausgeschlossen war. Insoweit wäre zu berücksichtigen gewesen, daß der Geschädigte nach den Bekundungen seiner Klassenlehrerin, die ihn von 2000 bis 2003 unterrichtete, zunehmend durch derbe sexualisierte Ausdrücke auffiel und er schon vor dem Tatzeitpunkt vor etwaigen sexuellen Annäherungen des Angeklagten - der in dem Viertel den Ruf eines "Kinderfickers" hatte - von der Zeugin K. gewarnt worden war. Daß der Geschädigte trotz seiner intellektuellen Einschränkungen jedenfalls zu einer gewissen Reflektion seines Verhaltens fähig ist, könnte sich auch daraus schließen lassen, daß er nach Auffassung der Kammer den Angeklagten in der Hauptverhandlung fälschlich der gewaltsamen Vornahme der sexuellen Handlungen beschuldigt hat, um seine mangelnde Gegenwehr zu rechtfertigen. Unter diesen Umständen hätte es näherer Begründung bedurft, daß bei dem Geschädigten eine Widerstandsunfähigkeit im Sinne von § 179 Abs. 1 Nr. 1 StGB vorgelegen hat, die zudem von einer auf Unreife beruhenden eingeschränkten Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung im Sinne von § 182 Abs. 2 StGB abzugrenzen ist.

Die Sache bedarf danach erneuter Prüfung.

HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 227

Externe Fundstellen: NJW 2005, 1960; NStZ-RR 2005, 172

Bearbeiter: Ulf Buermeyer