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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 527/95, Urteil v. 31.10.1995, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 527/95 - Urteil vom 31. Oktober 1995 (LG Ingolstadt)

BGHSt 41, 285; keine Vornahme von sexuellen Handlungen "vor" dem Täter durch fernmündlichen Kontakt; psychische Einwirkungen als Gesundheitsbeschädigung.

§ 176 Abs. 5 Nr. 2 StGB; § 223 StGB

Leitsätze

1. Sexuelle Handlungen eines Kindes werden nicht "vor" dem Täter vorgenommen, wenn dieser das sexuelle Geschehen nicht in räumlicher Nähe, sondern nur über eine Telefonverbindung verfolgen will. (BGHSt)

2. Als Gesundheitsbeschädigung i.S.d. § 223 StGB können neben der Gewaltausübung auch psychische Einwirkungen durch Drohung, Beleidigung oder Mitteilung einer Schreckensnachricht angesehen werden, wenn diese einen krankhaften Zustand hervorrufen. Dafür reichen solche psychischen Beeinträchtigungen aus, die den Körper im weitesten Sinne in einen pathologischen, somatisch objektivierbaren Zustand, vor allem auch nervlicher Art, versetzen (so bspw. Zittern, Schlafstörungen und Angstzustände von nicht nur unerheblichem Ausmaß). (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 17. Mai 1995

a) im Schuldspruch dahin geändert, daß im Fall II 1 der Urteilsgründe die tateinheitliche Verurteilung wegen versuchten sexuellen Mißbrauchs von Kindern entfällt,

b) im zugehörigen Einzelstrafausspruch und im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen mehrerer Fälle der versuchten und vollendeten Nötigung, in acht Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und in einem Fall in Tateinheit mit versuchtem sexuellem Mißbrauch von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten ist teilweise begründet.

Nach den Feststellungen hat der Angeklagte in über 100 Fällen, in denen das Verfahren bis auf elf Fälle gemäß § 154 Abs. 1 StPO eingestellt wurde, Frauen angerufen, um diese zu erniedrigen, sich an deren Leid zu ergötzen und sich dadurch sexuell zu erregen. Jeweils täuschte er vor, deren Tochter entführt zu haben und diese jetzt zu vergewaltigen, wenn die Angerufene sich seinen Anordnungen nicht füge. Er forderte dann die Beschreibung der Unterwäsche, Streicheln im Genitalbereich, Selbstbefriedigung und außerdem, daß die Opfer dabei stöhnen sollten. Die Mütter kamen meist in höchster Sorge den Aufforderungen nach oder täuschten das jedenfalls vor. War zufällig nicht eine Mutter, sondern ein Mädchen am Telefon, tauschte er die Rollen aus und gab vor, die Mutter in seiner Gewalt zu haben.

1. Soweit der Angeklagte im Fall II 1 neben versuchter Nötigung auch (in Tateinheit) wegen versuchten sexuellen Mißbrauchs eines Kindes (§ 176 Abs. 5 Nr. 2, Abs. 6 StGB) verurteilt wurde, begegnet das rechtlichen Bedenken.

In diesem Fall wollte der Angeklagte in der gleichen geschilderten Art und Weise vorgehen. Den Anruf nahm ein Mädchen entgegen, von dem der Angeklagte wußte, daß es zwölf Jahre alt war. Er wollte, daß das Kind "unter dem Eindruck der Drohung, er habe die Mutter entführt, sexuelle Handlungen an sich vornehmen, insbesondere, daß (es) sich selbst befriedigen solle." Nach Mitteilung der Entführung und den Worten "paß auf, was ich von Dir verlange", beendete der Angeklagte aber die Verbindung, weil der Vater des Kindes das Gespräch übernommen hatte.

a) Die Verurteilung wegen versuchter Nötigung hat Bestand. Mit seiner Drohung und den weiteren einleitenden Worten hatte der Angeklagte die Schwelle zum "jetzt geht es los" bereits überschritten (vgl. Dreher/Tröndle, StGB 47. Aufl. § 22 Rdn. 11).

b) Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen erfüllen jedoch nicht den Tatbestand des versuchten sexuellen Mißbrauchs eines Kindes im Sinne des § 176 Abs. 5 Nr. 2 StGB. Zwar hat der Angeklagte versucht, das Kind zu sexuellen Handlungen zu bestimmen, um sich hierdurch sexuell zu erregen. Die sexuellen Handlungen sollten aber nicht "vor" ihm vorgenommen werden. Denn § 176 Abs. 5 Nr. 2 StGB setzt voraus, daß das mißbrauchte Kind sich in räumlicher Nähe zum Täter befindet, der die sexuellen Handlungen des Kindes dabei wahrnimmt (BGHSt 29, 29, 31 in einer die dortige Entscheidung nicht tragenden Bemerkung). Bei einem lediglich telefonischen Kontakt ist das nicht der Fall.

Unabhängig vom kriminalpolitischen Bedürfnis, Kinder strafrechtlich vor solchen telefonischen sexuellen Attacken zu schützen, findet die Auslegung des Begriffes "vor einem anderen" - wie immer - seine Grenze im Wortsinn, wie er sich aus dem Gesetzeswortlaut und aus dem Sinnzusammenhang des Gesetzes ergibt, in den die Norm gestellt ist (Dreher/Tröndle aaO § 1 Rdn. 10a). Zwar verbietet hier allein die Wortwahl noch nicht sicher, auch fernmündliche Kontakte zwischen Täter und Kind unter die Vorschrift zu subsumieren. Nach der Begriffsbestimmung in § 184 c Nr. 2 StGB fallen darunter jedoch nur solche Handlungen, "die vor einem anderen vorgenommen werden, der den Vorgang wahrnimmt". Das spricht eher dafür, daß das Gesetz von der körperlichen Anwesenheit des Täters ausgeht. Bei einem Verzicht auf die räumliche Nähe zwischen Täter und Opfer wäre der Begriff auf die bloße Wahrnehmung des sexuellen Tuns reduziert.

Zwar sollen nicht nur optische, sondern auch akustische Wahrnehmungen des Geschehensablaufs - z.B. lustvolles Stöhnen - insoweit genügen (Lenckner in Schönke/Schröder, StGB 24. Aufl. Rdn. 21; Laufhütte in LK 11. Aufl. Rdn. 18 alle zu § 184 c); die Wahrnehmung sei "nicht notwendig auf das Visuelle beschränkt" (BT-Drucks. VI/3521 S. 25). Für das Verlangen nach zusätzlich räumlicher Nähe spricht jedoch nicht nur der Wortlaut des § 184 c Nr. 2 StGB ("vor einem anderen vorgenommen"). In die gleiche Richtung weisen auch die Gesetzesmaterialien. Bei den Gesetzesberatungen wollte der Strafrechtssonderausschuß durch die Begriffsbestimmung in § 184 c Nr. 2 StGB "klarstellen, daß zur Vornahme einer sexuellen Handlung vor jemandem nicht die räumliche Gegenwart des anderen allein genügt" (BT-Drucks. aaO; Laufhütte aaO) - aber wohl doch notwendig ist. Auch wollte man "kenntlich machen", daß z.B. "exhibitionistische Handlungen mit einer gewissen Distanz zwischen Täter und Betrachter nicht hier erfaßt, sondern nach § 183 beurteilt werden sollten" (aaO S. 37). Danach wären Distanztaten nicht "vor einem anderen" begangen. Auf telefonische Kontakte träfe das dann erst recht nicht zu.

Auch der Schutzzweck des § 176 Abs. 5 Nr. 2 StGB gestattet diese Auffassung. § 176 StGB enthält einen Katalog von Verhaltensweisen, deren Strafwürdigkeit abgestuft ist: Absatz 1 und 2 bedrohen Tathandlungen mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, bei denen es zu einem Körperkontakt mit dem Kind gekommen ist. Als weniger gravierend werden solche sexuellen Handlungen angesehen (Abs. 5 Nr. 1 und 2), die zwar ohne körperliche Berührung, aber doch vor anderen in deren räumlicher Nähe vorgenommen werden. Hier sind die körperlichen Einwirkungsmöglichkeiten und damit auch die Gefährlichkeit des Täters größer als bei bloßem telefonischen Kontakt, bei dem er zudem nicht die Einbeziehung des Körpers des Kindes, sondern nur dessen sexualbezogene Äußerungen wahrnehmen kann.

Der Umstand, daß die Einwirkung auf ein Kind durch "Reden" pornographischer Art in § 176 Abs. 5 Nr. 3 StGB eigens unter Strafe gestellt ist, deutet ebenfalls darauf hin, daß sexuelle Handlungen nach Nr. 2 vor einem anderen nur in räumlicher Nähe vorgenommen und wahrgenommen werden können.

Ein Versuch nach § 176 Abs. 5 Nr. 3 StGB ist nicht strafbar (§ 176 Abs. 6, 2. Halbsatz StGB). Der Senat ändert den Schuldspruch. Das führt zur Aufhebung der Einzelstrafe im Fall II 1 und der Gesamtstrafe.

2. Im übrigen enthält das Urteil keinen Rechtsfehler. Der Erörterung bedarf jedoch folgendes:

Zu Recht hat das Landgericht den Angeklagten in acht Fällen auch wegen vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt.

Nach den Feststellungen nahm der Angeklagte bei seinem Handeln billigend in Kauf, daß die Angerufenen "über den Schrecken hinaus auch körperlich leiden und gesundheitlich Schaden nehmen durch nicht unerhebliche psycho-vegetative Störungen wie Heulkrämpfe, extreme Angstzustände und Schlafstörungen". Das Verhalten des Angeklagten führte in acht Fällen dazu, daß die Opfer "am ganzen Körper zitterten und einem Nervenzusammenbruch nahe waren" (II, 2, 3, 5, 7, 9) und/oder "als Asthmatikerin Atemnot" erlitten (II 3), "nächtelang nicht schlafen konnten" (II 2, 6, 8, 9), "Angstzustände hatten" (II 8), wenn während der Schulzeit das Telefon läutete (II 6), "Alpträume hatten" (II 7) oder einen 20minütigen Weinkrampf erlitten (II 2, 10).

Es begegnet keinen rechtlichen Bedenken, solche Tatfolgen als Gesundheitsbeschädigung im Sinne des § 223 StGB anzusehen. Denn die Art der Schädigungshandlung ist nicht auf Gewaltausübung beschränkt - auch psychische Einwirkung durch Drohung, Beleidigung oder Mitteilung einer Schreckensnachricht kann den krankhaften Zustand hervorrufen, der für die Gesundheitsbeschädigung erforderlich ist (BGH NJW 1976, 1143; 1144; Beispiele bei Dreher/Tröndle, StGB 47. Aufl. § 223 Rdn. 6; Eser in Schönke/Schröder StGB 24. Aufl. § 223 Rdn. 5).

Hierfür reichen solche psychischen Beeinträchtigungen jedenfalls aus, die den Körper im weitesten Sinne (BGH NJW 1983, 462) in einen pathologischen, somatisch objektivierbaren Zustand, vor allem auch nervlicher Art, versetzen (vgl. hierzu Hirsch in LK 10. Aufl. § 223 Rdn. 14 mit zahlreichen Beispielen; Horn in SK StGB § 223 Rdn. 23; Eser aaO § 223 Rdn. 6). Dazu gehören bereits auch Zittern, Schlafstörungen und Angstzustände (BGH aaO), soweit sie nicht nur unerheblichen Ausmaßes sind. Solche den Körper und Organismus ergreifende Beeinträchtigungen hat das Landgericht beschrieben.

Externe Fundstellen: BGHSt 41, 285; NJW 1996, 1068; NStZ 1996, 131; StV 1996, 314

Bearbeiter: Rocco Beck