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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 481/95, Beschluss v. 23.01.1996, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 481/95 - Beschluß vom 23. Januar 1996 (LG Stuttgart)

BGHSt 42, 27; Konkurrenzverhältnis zwischen § 176 Abs. 1 StGB und § 182 Abs. 2 StGB.

§ 176 Abs. 1 StGB; § 182 Abs. 2 StGB; § 52 StGB

Leitsatz

§ 182 Abs. 2 Nr. 1 StGB und § 176 Abs. 1 StGB stehen in Gesetzeskonkurrenz; § 182 Abs. 2 StGB tritt zurück. (BGHSt)

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 21. März 1995 im Schuldspruch dahin geändert, daß in den Fällen II 1, 2 und 8 der Urteilsgründe der Vorwurf eines tateinheitlich begangenen Vergehens des sexuellen Mißbrauchs von Jugendlichen (§ 182 Abs. 2 Nr. 1 StGB) entfällt.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Der Angeklagte hat die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

1. In den Fällen II 1, 2 und 8 der Urteilsgründe hat das Landgericht den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern (§ 176 Abs. 1 StGB) in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von Jugendlichen (§ 182 Abs. 2 Nr. 1 StGB) verurteilt. Er hatte jeweils an einem noch nicht 14 Jahre alten Jungen sexuelle Handlungen vorgenommen oder an sich von dem Kind vornehmen lassen.

Wie die Revision zutreffend ausführt, besteht zwischen § 176 Abs. 1 StGB und § 182 Abs. 2 Nr. 1 StGB Gesetzeskonkurrenz; die erstere Vorschrift verdrängt die letztere (so auch - bei Annahme von Konsumtion - BayObLG NStZ 1995, 500, 501). Gesetzeseinheit liegt vor, wenn der Unrechtsgehalt einer Handlung durch einen von mehreren dem Wortlaut nach anwendbaren Straftatbeständen erschöpfend erfaßt wird (BGHSt 31, 380). Das ist hier der Fall.

§ 176 Abs. 1 StGB ist erfüllt, wenn eine strafmündige Person sexuelle Handlungen an einer Person unter 14 Jahren vornimmt. Die Vornahme sexueller Handlungen verlangt auch § 182 Abs. 2 Nr. 1 StGB. Ob diese Bestimmung eingreift, hängt (abgesehen vom Alter des Opfers) allerdings von zwei zusätzlichen Voraussetzungen ab: Der Täter muß mindestens 21 Jahre alt sein, und er muß bei seinem Tun die fehlende Fähigkeit des Opfers zu sexueller Selbstbestimmung ausgenutzt haben. Ersteres enthält kein zusätzliches Unrecht, sondern soll den Täterkreis einschränken, weil "ein erheblicher Altersunterschied zwischen Täter und Opfer ein erstes Indiz für das Bestehen eines 'Machtgefälles' zwischen den Partnern ist" und weil durch diese Altersgrenze beim Täter "sichergestellt wird, daß jugendtypische Beziehungen mit etwas älteren Partnern - wie sie vor allem bei Mädchen oft vorkommen - nicht erfaßt werden" (Gesetzentwurf der Bundesregierung BT-Drucks. 12/4584 S. 8).

Auch die zweite Voraussetzung enthält gegenüber § 176 Abs. 1 StGB kein anderes oder weiteres tatbestandliches Unrecht. Auf den ersten Blick könnte das zwar so scheinen, weil das Ausnutzen der fehlenden Fähigkeit des Opfers zu sexueller Selbstbestimmung zur sexuellen Betätigung hinzukommt. Doch hat dieses Tatbestandsmerkmal einschränkende Funktion: Weil das Gesetz bei Kindern - das sind gemäß § 174 Abs. 1 StGB Personen unter 14 Jahren - unwiderleglich davon ausgeht, sie seien zu hinreichender sexueller Selbstbestimmung nicht fähig, und die sexuelle Einwirkung des Täters auf sie gefährde ihre Entwicklung (vgl. Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform BT-Drucks. VI/3521 S. 34 ff. sowie BayObLG aaO), bedarf es einer solchen zusätzlichen Voraussetzung nicht. Bei ihnen genügt daher die bloße Vornahme sexueller Handlungen, um den Tatbestand des § 176 Abs. 1 StGB (mit einem Normalstrafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe) zu erfüllen. Bei Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren ist das anders. Bei ihnen können der noch nicht abgeschlossene Reifeprozeß und die noch fehlende sexuelle Autonomie dazu führen, daß ein sexueller Mißbrauch durch Erwachsene nachteilige Folgen für die Entwicklung des Jugendlichen nach sich zieht, wenn dies auch nicht generell angenommen werden kann (Regierungsentwurf aaO S. 7). Deshalb ist die Strafbarkeit sexuellen Verhaltens ihnen gegenüber im Vergleich zu § 176 Abs. 1 StGB eingeschränkt. Bei einem Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren genügt die Vornahme sexueller Handlungen nicht. Strafbar sind diese nur, wenn der Täter den Reifemangel des Opfers für seine sexuellen Zwecke ausnutzt (Regierungsentwurf aaO S. 8). Nur wenn dies festgestellt werden kann, ist § 182 Abs. 2 StGB erfüllt. In diesem Fall ist die Strafdrohung (Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe) milder als bei sexuellem Mißbrauch von Kindern.

Danach steht fest, daß sich der Schutzzweck des § 182 Abs. 2 StGB mit dem des § 176 Abs. 1 StGB deckt. Allerdings liegt ein wesentlicher Unterschied darin, daß bei sexuellem Mißbrauch von Kindern die fehlende sexuelle Autonomie des Opfers unwiderleglich vermutet wird, während dieses Merkmal wegen des höheren Alters bei sexuellem Mißbrauch von Jugendlichen im Einzelfall festgestellt werden muß. Soweit sexueller Mißbrauch von Kindern (§ 176 Abs. 1 StGB) vorliegt, tritt deshalb der Vorwurf eines zugleich begangenen Vergehens des sexuellen Mißbrauchs von Jugendlichen nach § 182 Abs. 2 Nr. 1 StGB zurück. Es besteht Spezialität (vgl. auch BGHSt 30, 355, 358 f.).

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht daraus, daß § 182 Abs. 2 StGB nicht voraussetzt, daß das unter 16 Jahre alte Tatopfer sein 14. Lebensjahr vollendet hat, obwohl die gesetzliche Überschrift sexuellen Mißbrauch "von Jugendlichen" aufführt. Diese Überschrift bedeutet nicht, auch hier sei wie gemäß § 1 Abs. 2 JGG Jugendlicher, wer zur Zeit der Tat 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Wie der Referentenentwurf zur Reform der §§ 175, 182 StGB (S. 20) klargestellt hat, erfaßt der neue Tatbestand nicht nur Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren, sondern alle Personen unter 16 Jahren, damit im Falle eines Irrtums des Täters über das Alter des Opfers keine Strafbarkeitslücke auftritt: Sonst hätte z. B. der Mißbrauch eines 13jährigen Kindes, das der Täter unwiderlegbar für 15jährig hielt, mangels Vorsatzes nicht nach § 176, mangels Tatbestandes nicht nach § 182 StGB bestraft werden können (vgl. auch RGSt 46, 139 f.).

Schließlich ist in diesem Zusammenhang nicht maßgebend, daß, wie der Bundesgerichtshof wiederholt entschieden hat (StV 1988, 61 f.; 1989, 432 f.; 1994, 314 f.), die enge Beziehung zwischen Täter und Opfer sowie das geringe Ausmaß der erlittenen Beeinträchtigung Bedeutung gewinnen können für die Wertung, ob ein besonders schwerer Fall i. S. v. § 176 Abs. 3 Satz 1 StGB vorliegt oder nicht.

Tateinheitliches Zusammentreffen mit sexuellem Mißbrauch von Kindern kommt hingegen in Betracht, wenn die Tat gemäß § 182 Abs. 1 Nr. 1 StGB "unter Ausnutzung einer Zwangslage oder gegen Entgelt" begangen wird und damit zusätzliches Unrecht aufweist (zu einem Entgeltfall vgl. BGHR StGB § 2 Abs. 3 Gesetzesänderung 10).

Aus den angeführten Gründen entscheidet der Senat, daß § 182 Abs. 2 Nr. 1 StGB und § 176 Abs. 1 StGB in Gesetzeskonkurrenz stehen, wobei die zuerst genannte Vorschrift zurücktritt (so auch Lackner, StGB 21. Aufl. § 182 Rdn. 11; aA - allerdings nicht nach Absätzen des § 182 StGB differenzierend - Laufhütte in LK 11. Aufl. § 182 Rdn. 8 sowie Dreher/ Tröndle, StGB 47. Aufl. § 182 Rdn. 14; für Idealkonkurrenz auch Schroeder JR 1996, 40 f.; vgl. auch Horn in SK StGB 5. Aufl. 35. Lfg. - Juli 1995 - § 182 Rdn. 11, 17).

Die Auffassung, § 176 Abs. 1 StGB verdränge § 182 Abs. 2 StGB, hat zur Folge, daß eine Beweisaufnahme über Ausnutzung der fehlenden sexuellen Autonomie des Kindes (durch Vernehmung des Tatopfers oder seine Begutachtung durch einen Sachverständigen) sich in der Regel erübrigt. Insoweit trifft bei sexuellem Mißbrauch von Kindern der im Gesetzgebungsverfahren erhobene Einwand nicht zu, § 182 Abs. 2 StGB werde - zur Klärung der Fähigkeit zu sexueller Selbstbestimmung - "zu zahlreichen Gutachterprozessen führen, die auch für die Opfer nur schwer erträglich seien" (Bericht des Rechtsausschusses BT-Drucks. 12/7035 S. 9).

2. Der Senat ändert den Schuldspruch entsprechend. Der Strafausspruch wird dadurch - im Gegensatz zur Meinung der Revision - nicht in Frage gestellt. Das Landgericht hat in den erörterten Fällen § 182 Abs. 2 Nr. 1 StGB zwar im Rahmen der rechtlichen Würdigung erwähnt. Doch hat es dieser Bestimmung bei der Strafzumessung ersichtlich keine Bedeutung beigemessen.

3. Im übrigen hat die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Sachrüge keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

Externe Fundstellen: BGHSt 42, 27; NJW 1996, 1294; NStZ 1996, 229

Bearbeiter: Rocco Beck